Der editierte Text

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d. 19. 3. 331
Lieber Herr a!

Sie haben mir die Trauernachricht2 von dem Tode Ihrer b geschickt und ich habe mit Ihnen gefühlt, was dieser Verlust für Sie, vor allem aber für Ihren c bedeutet. Bitte sprechen Sie Ihrem d meine herzliche Teilnahme aus.

Haben Sie besten Dank für Ihre Mitteilung über die Berliner Angelegenheit. Durch die neue Lage sind ja sowieso alle Voraussetzungen für eine Berufung nach e hingefallen. Dagegen ist in anderer Beziehung eine neue Situation für mich entstanden, über die ich Ihnen vertraulich etwas mitteilen möchte und zu der ich Ihre Hülfe in einer ganz anderen Richtung in Anspruch nehmen muss.

Wie Sie sich denken können, ist die Frankfurter Universität, an der etwa ein halb Dutzend linksgerichteter Professoren dozieren, Gegenstand heftiger politischer Angriffe. Auch ich bin davon nicht verschont. Teils wegen meines energischen Verhaltens als Senatsmitglied im vorigen Semester (bei Gelegenheit des Überfalls von universitätsfremden S.A.gruppen [sic!] auf die Universität3) teils wegen meiner programatischen [sic!] Schrift "f", die Weihnachten erschienen ist (ich weiss nicht, ob ich sie Ihnen schon geschickt habe oder ob Sie sie sonst kennen). Die g ist ein umfassender Versuch, die beiden grossen politischen Tendenzen, "die ursprungsmythische", die in der nationalen Bewegung wirkt, und die "profetische", die den Hintergrund des Sozialismus bildet, zusammenzufassen. Es handelt sich also um den Versuch, einen zugleich profetischen und der deutschen Situation angemessenen Sozialismus zu schaffen.

Es besteht nun die Gefahr, dass die Angriffe auf die Universität und auf mich persönlich erfolgreich sind, falls nicht Gegenkräfte eingesetzt werden. Mir ist nicht bekannt, ob Sie direkt oder indirekt Beziehungen zu den gegenwärtig massgebenden Kreisen, namentlich im Kultusministerium haben, um dort meine wirkliche Stellung darlegen zu können. Aber vielleicht ist dies nicht einmal das Wichtigste. Wichtiger ist, dass die Kirche resp. massgebende rechtsgerichtete Persönlichkeiten in der Kirche den Sinn und die Bedeutung der religiös-sozialistischen Bewegung in den letzten Jahrzehnten verständlich machen und deutlich erklären, dass die Existenz religiös-sozialistischer Professoren unmittelbar im Interesse der Kirche liegt. Vielleicht wäre es auch sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass die Kirche ein Interesse daran hat, protestantische Theologen in philosophischen Lehrstühlen zu halten, um die philosophische Besinnung nicht ausschließlich dem Katholizismus oder Humanismus zu überlassen.

Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass ich von meiner wirklichen Überzeugung auch nur um Haaresbreite abweichen könnte. Sie kennen mich ja gut genug, um zu wissen, dass davon keine Rede sein kann. Wenn ich Ihre Hilfe in Anspruch nehme, so tue ich es deswegen, weil ich für nötig halte, dass der Popanz Marxismus, nachdem er seine agitatorische Wirksamkeit gehabt hat, differenziert wird und die Arbeit zu seiner inneren Weiterbildung in die kommenden Bewegungen aufgenommen wird. Da den gegenwärtigen Regierungsträgern eine wirkliche Kenntnis dieser Dinge im allgemeinen fehlt, ist es nicht nur ein persönliches, sondern auch ein sachlich wichtiges Anliegen, das ich an Sie habe.

Im übrigen sehe ich den Dingen mit Ruhe entgegen. Vielleicht kommen wir nun doch zu einer gemeinsamen Arbeit in h, denn wenn man mich hier beseitigt, aber die Existenz in Deutschland ermöglicht, bliebe mir kaum etwas anderes übrig, als – – – eine Habilitation für Religionsphilosophie in i zu versuchen.

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir offen schrieben, wie Sie die Lage beurteilen und welche Möglichkeiten Sie selbst haben, einzugreifen.

Mit herzlichem Gruss, auch an Ihre j
Ihr
k

Fußnoten, Anmerkungen

1Erklärende Anmerkungen zu vorliegendem Brief wurden (ggf. geringfügig abgewandelt) aus seiner Erstveröffentlichung übernommen.
2Liegt nicht vor.
3Am 22. Juni 1932 war es an der Frankfurter Universität zu gewalttätigen Auseinandersetzungen des NS-Studentenbundes und der SA mit der "Roten Studentengruppe" gekommen; vgl. Bundesarchiv Berlin Bestand I. HA Rep 76 Kultusministerium, Nr. 485.

Register

aSeeberg, Erich
bSeeberg, Amanda
cSeeberg, Reinhold
dSeeberg, Reinhold
eBerlin
fTillich, Die sozialistische Entscheidung, 1933
gTillich, Die sozialistische Entscheidung, 1933
hBerlin
iBerlin
jSeeberg, Margot
kTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Koblenz, Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Reinhold und Erich Seeberg, N 1248
Typ

Brief, maschinenschriftlich

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Erich Seeberg vom 11. Dezember 1932

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Erich Seeberg vom 19. März 1933, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01200.html, Zugriff am ????.

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