Brief von Carl Heinrich Becker an Paul Tillich vom 11. Februar 1930

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Agay (Var) Côte d'Azur Hotel des Roches Rouges, ii.II.30

Lieber Herr Tillich!

Ich habe Ihnen für so viel zu danken, dass ich gar nicht weiss, womit anfangen. Zunächst Ihr Buch, das ich voll Begeisterung zu lesen begonnen hatte, als mir die Wiener Reise u. dann mein schneller Rücktritt1] mit darauffolgender Abreise das Buch aus der Hand schlugen. Dann Ihre lieben Zeilen vom 1. Februar u. nunmehr Ihre Anfrage wegen der pädag. Professur. Diese Anfrage hat mich tief gerührt, u. ich danke Ihnen u. allen Beteiligten von ganzem Herzen. Aber ich musste ablehnen; denn ich habe zu viel Respekt vor den Aufgaben dieser Pädagogikprofessur, um sie einem Kulturpolitiker auszuliefern. Ich bin als Fachmann nun einmal Orientalist; hier habe ich mir einen Namen gemacht, ehe ich ins Ministerium eintrat, u. alle meine Collegen des In- u. Auslandes haben mich wegen dieser politischen Allotrie beschimpft. Ich habe das seltene Glück gehabt, zweimal meinen Tod zu überleben. 19162] starb ich als Orientalist u. durfte 14 Jahre lang als Zuschauer sehen, was aus meinem Erbe wurde. Nun ich darf mit Stolz darauf blicken u. man wird es in Orientalistenkreisen nur natürlich finden, wenn ich um manche politische Erfahrung bereichert noch einmal versuche, die Islamistik, besonders ihre wirtschaftl. und polit. Historie u. ihre Soziologie noch ein Stückchen vorwärts zu bringen. Zum zweiten Mal sterbe ich jetzt in dem ganz andersartigen Kampf des Kulturpolitikers. Die Kondolenzbriefe, die bei meinem wirklichen Tod meine Hinterbliebenen getröstet hätten, durfte ich jetzt schon lesen, auch das ein seltenes Schicksal u. vielleicht darf ich auch abermals 14 Jahre lang als Zuschauer beobachten, was aus meinem kulturpolit. Wollen u. Regieren sich entwickeln wird. Ich glaube kaum, dass ich noch einmal berufen sein werde, hier aktiv einzugreifen. Ich weiss auch nicht, wo meine 3.te große Lebensaufgabe liegen wird. Vermutlich auf dem Gebiet der internationalen| Beziehungen. Ich lasse mich hier mit vollkommenem Amor fati gläubig leiten. Mein Instinkt sagt mir aber, dass ich dazu eine wissenschaftliche Basis brauche, die ich beherrsche. Das kann nur die Islamistik sein, niemals die Pädagogik, so sehr ich sie liebe. Die Berliner Professur meines Faches ist frei. Wie ich höre, sind meine Collegen dabei, die Wiederbesetzung dieser Stelle durch mich anzusagen.3] Das entspricht auch meinem Wunsche, denn schon 1913 hatte man mir bei meiner Berufung nach Bonn mit der Berliner Stelle gewinkt. Natürlich kann ich kein reiner Fachphilologe mehr sein, mein Radius ist größer geworden, aber zur kulturpolitischen u. geistesgeschichtlichen Wirkung gehört ein fachliches Fundament. –

Lieber Herr Tillich! Die Bekanntschaft mit Ihnen gehört zu meinen schönsten Erlebnissen der letzten Jahre. Deshalb habe ich mich auch so sehr über Ihre beiden Briefe gefreut. Ich hoffe sehr, dass wir uns nicht nur wissenschaftlich, sondern auch persönlich immer näher kommen werden. Jedenfalls bringe ich Ihnen einen starken geistigen Respekt u. eine warme, ganz rein menschliche Zuneigung entgegen.

Ich werde wohl bis kurz vor Ostern im Süden bleiben, denn ich brauche dringend Erholung u. muss Abstand gewinnen, denn leicht ist die Trennung von einer Lebensarbeit nicht, zumal wenn sie eine zweite, erst in reiferen Jahren eroberte, aber voll amalgamierte gewesen ist. Wille u. Verstand mögen sich gläubig fügen, aber der Mächte des Unbewußten und ihrer nervösen Auswirkung wird nur die Zeit Herr.-

Grüßen Sie alle, die sich für mich interessiert haben, vor allem auch unseren gemeinsamen Freund Horkheimer, ich reiche Ihnen in freundschaftlicher Verbundenheit die Hand.

Ihr C H Becker
    Entität nicht im Datensatz vorhanden

    Personen:

    • Horkheimer, Max (Sozialphilosoph)
    • Grimme, Adolf (Deutscher Kulturpolitiker SPD in der Spätphase der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik, erster niedersächsischer Kultusminister und Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR))
    • Tillich, Paul (Theologe; Religionsphilosoph; Pfarrer;)
    • Becker, Carl Heinrich (Deutscher Orientalist und Politiker, Kultusminister 1921 und 1925-30)

    Orte:

    Literatur:

    • Tillich, Paul, Religiöse Verwirklichung, Berlin 1930