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d. 20.

Liebste Hannah!

Es ist immerzu so viel zu schreiben, daß ich gar nicht weiß, womit anfangen. Z.B., daß ich jetzt in der Avenue Wagram sitze mit Blick auf Triumphbogen und Eiffelturm, und die Sonne untergeht im Dunst, den die wolkenlose Glut der letzten Tage über Paris gelegt hat. Daß ich heut die ältesten Straßen von Paris durchwandert habe, daß ich gestern mit Malla (Hamburger ist zu einer Konferenz nach Düsseldorf gefahren) einen Sonntag-Nachmittagsausflug nach der Marne gemacht habe, wo man Corot und Monet und Cezanne auf einmal, von der Natur, von dieser| Landschaft aus verstehen kann – die unendlichen Nüancen von Grau-Grün und die Flüchtigkeit der Häuser und Berghänge – [Mein Begriff der Sinnerfüllung der Natur durch die Kunst lebte plötzlich wieder auf] – und wo Maupassant viele seiner kleinen Pariser Novellen spielen läßt und wir selbst in eine ganz Maupassanthafte Stimmung kamen [wobei mir wieder der Begriff der Sinnerfüllung nämlich des gesellschaftlichen Geschehens durch den Dichter erläutert wurde] – –| Neulich Abend waren wir in Folies-Bergère. Wir nehmen bei so etwas immer Promenoir (Stehplatz für 6 Fr), wo man bis an die Bühne herangehen und glänzend sehen kann wie auf den 100 Fr.-Plätzen. Es war die übliche Revue, aber mit der Baker, der Mulattin, die im Winter bei Nelson aufgetreten ist. Ich habe von dem Abend den Eindruck gehabt: Die Revue ist erledigt, die große Einzelleistung ist alles. Die Revue lebt von der Betrachtung des Geschaffenen (daher ihr Name) dieses kann geistreich sein, wenn viel zu betrachten da ist. Wenn aber nur noch Re| vue da ist, dann bleibt nichts übrig als eine "Betrachtung der Betrachtung", in der sich das Ganze in Nichts auflöst. Die eine wilde Mulattin wiegt alle Pariser Revuen auf. Ihr Körper und jede ihrer Bewegungen grenzt ans Wunderbare. Jede Bewegung ist der ganze Körper in Bewegung, ob sie Bauchtanzt oder den kleinen Finger bewegt – – – –

Morgen Mittag essen wir mit Frau Knaden, morgen Abend bin ich bei Nora. Heut und gestern kein Brief von Dir, das ist immer sehr schwer!

In Sehnsucht!
Dein Paul.

Morgen mehr

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