Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 2. September 1926

Zum TEI/XML DokumentAls PDF herunterladen

Der editierte Text

|
a - b d. 2. Sept.
Liebste süße c!

Nun bin ich abgefahren, ohne noch einen Brief von Dir zu haben. Das kommt sicher, weil ich die letzten Tage in d selbst unregelmäßig war. Es ist merkwürdig, aber die Gleichmäßigkeit der Tage schläferte so ein, daß ich die Aktivität nicht aufbrachte, ganz konsequent zu sein. Dazu kam, daß mein Bauch immer wieder Schwierigkeiten machte. Übrigens war ich nicht der einzige in der Pension. Das Essen war wohl zu viel für die untätige Lebensweise. Den heutigen Reisetag benutze ich wieder als Hungertag und hoffe, daß ichs dann einigermaßen geschafft habe. Es ist so schwer, Diät zu halten, weil die Leute einen immer mißverstehen. Die letzten Tage habe ich mich wesentlich von Eiern und Püree ernährt, was sehr gut war. Sehr gespannt sind wir, was in e wird, ob wir infolge der Preise, der Autos etc. sofort wieder abfahren oder ob man dort ein paar Tage sein kann. Dann über f nach g. | Ich schrieb Dir schon auf einer h, daß Du nun nach i VIe, Hotel Duguay-Trouin, Rue Duguay Trouin schreiben sollst.

Die letzten Tage war sehr zweifelhaftes Wetter, erst zum Abschied wurde es wunderbar schön, so daß es uns recht schwer wurde zu gehen. Leider haben wir kein einziges Mal auf der ganzen Reise großen Sturm gehabt, dafür war aber 2-3 Tage sogar der Atlantische Ozean still wie die Ostsee. Im Ganzen habe ich den Eindruck, daß uns diese Orte nicht so für die Dauer halten können, wie unsere. Sie sind schöner, aber durch Formung, und dadurch auch wieder begrenzter. Es ist schwer zu sagen, aber man bekommt immer die Sehnsucht nach etwas Neuem, während j und k mich sofort für immer haben wollen. Dabei ist jeder einzelne Eindruck genau wie in Süditalien unvergeßlich stark. Aber es ist nicht die Mystik der Natureinfühlung möglich. Die geht den Französen überhaupt| ziemlich ab. Sie kommen immer von Geist und Intellekt her. Das Wort ist ihr eigentliches Lebenselement und sie handhaben es vollkommen, logisch und rednerisch gleich glänzend.

Wir haben noch immer niemand kennen gelernt. Die Dame aus l von der ich schon schrieb, meinte, man könnte uns nicht vergessen, was wir in m getan. Sie wollte nicht, daß wir Freunde würden, n und o; es ginge noch nicht. Im Übrigen würden wir niemand finden, der gern mit uns spräche. Heut fahren wir mit einem Franzosen im Koupé, der das Gegenteil beweist, sogar mit uns Schach spielt, aber für die herrschende Tendenz ist die Dame charakteristischer.

Der p ist fertig, mit Vorwort versehen, das sehr persönlich ist. An weiterer Arbeit hinderte der Bauch. Das Buch von q ist angekommen. Ich will nachher etwas lesen. Wie ist seine Adresse? – Grüß r sehr herzlich. Ich freu mich, daß sie da ist, nur sorge, daß Du Dein oder mein Zimmer für | ein paar Wochen hast. – Mit s ist es immer netter. Morgens wurde uns der Tee in mein Zimmer gebracht. Ich lag im Bett und t machte mir die Brötchen, und wir unterhielten uns immer bis 9. Abends im Salon, wo wir die einzigen waren; spielten wir unser Schach. Erst siegte er immer, dann ich, jetzt wieder er. Im Ganzen sind wir ziemlich gleich. Nach Tisch haben wir uns immer auf das halbe Doppelbett gelegt, um uns gegenseitig zu wecken. Er ist oft direkt zärtlich, wie ich es nie gedacht hätte. Dabei ist es erstaunlich, wie er klettert und ständig darauf bedacht ist, sein Bein zu überwinden.

Heut habe ich geträumt: Eine Königin (oder meine Mutter) lag im Sterben. Ihr Herz schwamm in einem Fluß und es kam darauf an, ob es zerbrechen würde. Ich hatte die Aufgabe, es im Fluß so zu leiten, daß es nicht in Stücke ging. Das gelang eine Zeit lang; dann zerbrach es doch – und ich sah die Stücke im Fluß schwimmen. Da {verklang} der Traum {aus} in eine süße wehmutsvolle Stimmung. Was ist das??

In viel Liebe
Dein
u

Fußnoten, Anmerkungen

Register

aLe Conquet
bTrouville sur Mer
cTillich, Hannah
dLe Conquet
eTrouville sur Mer
fRouen
gParis
hPostkarte von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 1. September 1926
iParis
jKampen
kKloster (Hiddensee)
lParis
mFrankreich
nDeutschland
oFrankreich
pTillich, Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte, 1926
qGoesch, Heinrich
rKallen, Elisabeth W.
svon Sydow, Eckart
tvon Sydow, Eckart
uTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976., bMS 721/2(23)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Le Conquet - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Postkarte von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 1. September 1926
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 5. September 1926

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Briefe

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 2. September 1926, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00903.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

{{Internetquelle |url=https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00903.html |titel=Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 2. September 1926 |werk=Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition. |hrsg=Christian Danz, Friedrich Wilhelm Graf |sprache=de | datum=02.09.1926 |abruf=???? }}
L00903.pdf