Der editierte Text

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Liebste a!1

Ich sitze auf dem Dampfer zwischen b und c, der mächtig schaukelt bei herrlichem blauem Wetter. Ich denke so viel an Dich und unsere Meerfahrt und an die südlichen Buchten{,} die hier schon anfangen. d war auf der Fahrt nach e geschrieben. Die Ankunft war eine große Enttäuschung: Herrliche Lage, aber völlig versaut durch Autos, Staub und Schmutz[.] Mit Mühe fanden wir Zimmer und fuhren dann bei erstem Morgen herüber zur Insel. Auch hier fanden wir zunächst| nicht, was wir suchten und wollten zurückfahren, versäumten aber den letzten Dampfer und mußten nun dableiben. Inzwischen kamen Telegramme von anderswo, die uns zwangen, bis zum 15ten hier zu bleiben, und wir sind glücklich darüber. Denn es ist an sich fabelhaft schön. Halb südlich, halb wildes Meer. Unerhörte Farben. Hier habe ich f begriffen, besonders seine Hafenbilder. Die Segel braun[,] blau!, weiß, goldgelb. Die Schiffe rot, schwarz, grün etc. Dann die bretonische Tracht. Die Frauen schwarze Kleider à la g.| (Jetzt schaukelt das Dämpferchen so, daß ich mich kaum auf dem Sitz halten kann; gut, daß Du nicht mitfährst.) Die Schiffer haben herrlich farbige orange-braune Hosen und Jacken. Die Farben der Insel sind fein und südlich. Die Ufer ähnlich wie h, nur wüster. Jeden Morgen kommt der Dampfer mit Touristen, die im Auto{taxi} die Tour rings um die Insel machen – Wir waren noch zu sparsam dazu – – –

Ich habe viele sehr merkwürdige Träume gehabt: In der ersten Nacht wollte ich i die Freundschaft kündigen, wenn er mir nicht| das (j) geliehene Geld zurückgeben würde. In der zweiten ging ich mit k Arm in Arm als Liebespaar spazieren. In der dritten Nacht fuhren l, m (Kallens Freundin), n und ich spazieren. o machte einen mühsam von mir abgewehrten Angriff auf mein Männlein, während die Frauen sich lieb hatten. In der vierten Nacht wanderten p, q und ich von r nach s über t, u. Dabei kamen wir in einen Park, in den ich "groß" verschwinden wollte, aber keinen Platz fand. Nachher begegnete ich mit einem fremden Mann zusammen v, der uns in einem weiten Bogen "beschiffte", was mir um des anderen willen sehr peinlich war. Als ich es abwischen wollte, war es klebrig und ich wunderte mich, daß Christian so weit im Bogen "lieben" konnte. Dann gingen wir in| Kirche [sic!] , die alt-basilikal war. Am Hinterausgang fragte w einen Mönch, ob dort der Eingang wäre. Dieser antwortete, daß er sich freue, daß x ihn gleich deutsch anrede. Der Zugang aber sei an der andern Seite. Innen war alles herrlich gelb gestrichen und in der Ecke eine gothische Verzierung abgeschlagen, ein Überbleibsel der Gothisierung der alten Basilika, die man wieder beseitigt hatte. Ich erklärte mit höchster Begeisterung, daß nur die basilikale Kirche gut war und alles seitdem Kitsch – – – – –

So weit die Träume. Ich führe sie darauf zurück, daß durch das Zusammensein mit y am Meer die Kindheitssituation wiederhergestellt ist, vor aller Frau, also| mit stark homosexueller und analer Note, die übrigens z gegenüber nie im geringsten aktuell war. Vielleicht gibst Du dieses Material mal an aa. Es ist ja reichlich toll.

Wir wohnen also jetzt auf der ab im Atlantischen Ozean in ac, dem Hauptort. Gestern haben wir einen starken Westwind erlebt mit der Wirkung der Wellen (Biskaya!!) auf die Felsen, die auf der Karte nebenbei abgebildet sind. Es war grandios. Es spricht für ad, daß sie sich diese vielleicht schönste und wildeste Stelle von Frankreich ausgesucht hat, um ihr Schloß zu bauen.| Morgen sind es genau 14 Tage, daß ich abgefahren bin und noch kein Wort von Dir!! Schicke doch einmal einen eingeschriebenen Brief, damit ich wenigstens zum 20ten etwas von Dir gehört habe. Und zwar an die Adresse ae Belle-Ile-en Mer Hotel du Commerce. Wir zahlen hier nur 37 Fr., also 5 M pro Tag. Der einzige Fehler ist der, daß wir an der dem Festland zugewandten Seite der Insel wohnen und darum keine starke See haben. Wir werden darum wahrscheinlich Montag weiter fahren. Aber schreibe hierher!! af wird dann abfahren. ag bleibt noch.|

Menschen, besonders Frauen, lernen wir überhaupt nicht kennen. Das scheint nicht nur an uns zu liegen, sondern ganz allgemein zu sein. Ich bedaure es nicht sehr. Für die Erholung ist es so besser.

Da ich überhaupt nicht weiß, wie es bei Euch steht, kann ich auch nichts fragen; höchstens, was der wilde Wein macht– – – –

Liebste, süße ah! Daß wir so lange und so radikal getrennt sind, ist bös'!! Ich darf gar nicht daran denken!! Von Tag zu Tag hoffe ich auf Dich und ein Wort von Dir. Ich selbst schreibe jeden Tag! In großer Liebe!

Dein ai

Fußnoten, Anmerkungen

1Dieser im Original undatierte Brief kann durch seinen Kontext auf den 12. August 1926 datiert werden.

Register

aTillich, Hannah
bQuiberon
cBelle-Île
dBrief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 8. August 1926
eQuiberon
fVan Gogh, Vincent
gElisabeth I. von England
hTaormina
iHerrmann, Christian
jvon Sydow, Eckart
kSpitta, Walter
lKallen, Elisabeth W.
mGroße, (Fräulein)
nvon Sydow, Eckart
ovon Sydow, Eckart
pvon Sydow, Eckart
qHerrmann, Christian
rFlorenz
sRom
tSiena
uOrvieto
vHerrmann, Christian
wHerrmann, Christian
xHerrmann, Christian
yvon Sydow, Eckart
zvon Sydow, Eckart
aaGoesch, Heinrich
abBelle-Île
acLe Palais
adBernhardt, Sarah
aeLe Palais
afHerrmann, Christian
agvon Sydow, Eckart
ahTillich, Hannah
aiTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976., bMS 721/2(23)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Quiberon - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 8. August 1926
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 16. August 1926

Entitäten

Personen

Orte

Briefe

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 12. August 1926, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00889.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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L00889.pdf