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D. 31. Jan. 1917.

Lieber Papa!

Hab herzlichen Dank für Deinen ausführlichen Brief!1] Er brachte ja manches, was mich überrascht und bewegt hat! – Also Toni gehört nicht mehr so zu uns wie früher; sie ist nicht mehr die unsre im eigentlichen Sinne des Wortes. Das ist schwer für uns alle und fast unbegreiflich für mich. Aber es muß wohl so das Beste sein, obwohl ich nicht weiß warum. Aber es werden ja nun bald drei Jahre, die ich nicht nur von Euch fort bin, sondern auch heraus aus allem, was man vorher Leben nannte, und kann es nicht mehr beurteilen. Ich erwarte noch einen Brief von ihr, wo sie mir selbst sagt, was der Grund war. Sie hat mir ja immer alles anvertraut. Wie alt sind wir doch in diesen drei Jahren geworden, daß auch das nun Vergangenheit ist! – – –

Um so mehr verstehe ich Deinen Entschluß, das Amt aufzugeben. Auch für Dich haben die Kriegsjahre doppelt gezählt und niemand hat die Ruhe mehr verdient als Du. Dann ist also auch die Neuenburgerstrasse und Bethlehemskirche2] Vergangenheit! Ich habe etwas von Deinem Gefühl des Gedrängtseins durch die Arbeit geerbt. Ich merke es jetzt oft, wenn vieles zusammenkommt und alles zusammen, wie ein Berg, vor mir liegt. Am schwersten wird Dir wie mir die Seelsorge und die Predigt, während uns wissenschaftliche Arbeit und Aktensachen liegen. Du bist dem Wesen nach Konsistorialrat von jeher und ich Professor von jeher! Aber das Schicksal | will, daß Du immer Prediger sein mußtest, und ich einen großen Teil meines Lebens, wenn nicht für immer, auch. Das ist merkwürdig und eine der vielen oder meisten Lebenswege, wo Anlage und Verhältnisse sich kreuzen. Das will natürlich nicht hindern, daß wir beide oft mit Freude und Du mit großem, ich mit kleinem Erfolg, predigen. Aber innerlich leiden wir doch darunter und verbrauchen einen großen Teil unserer Kraft für quälende Gedanken und Skrupel. Das kam mir alles beim Nachdenken über Deinen Brief!
Den Vortrag von Seidel habe ich gern gelesen; es ist viel Klugheit und Tiefe darin. Ich war mal bei Wegener mit ihm zum Kaffee. Da las er Gedichte vor; er ist ja der Sohn des Dichters Seidel.
Von Deiner Musik habe ich lange nichts mehr gehört. Nun Du wirst ja in der Ruhe Zeit dazu haben und ich freue mich darauf, von Dir zu lernen. Man kann in diesen Dingen lernen, wie ich an meinen Bildern sehe, die mir jetzt das sind, was Dir die Musik war. – –

Hier ist noch immer Winter, viel Schnee und Kälte, aber ich habe ein schönes Zimmer und ein warmes Bett, mehr, als man hier draußen beanspruchen kann. Nun kommt das große Blutjahr 1917. Viel Änderung wird es kaum bringen! –

Noch einmal vielen Dank für Deinen Brief und Gruß an Elisabeth! Dein .
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    • Seidel, Heinrich Wolfgang, Unbekannter Vortrag, den Paul Tillich von seinem Vater geschickt bekommen hat, wahrscheinlich 1916.