Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 19. Dezember 1916

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Der editierte Text

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D. 19. Dez. 1916.
Lieber a!

Nun noch 5 Tage, dann ist der dritte Kriegsheiligabend, der dritte, den ich fern von Euch erlebe, der dritte ohne jemand, mit dem man im Tiefsten verbunden wäre, der dritte in meiner Ehe, deren schönste Jahre unwiederbringlich dahin sind, noch ehe sie angefangen hat. Es ist nicht schwer, an solchem Weihnachtsfest zu predigen, zu Menschen zu predigen, die genau wissen, daß sie im Laufe einiger Monate| mit geringen Ausnahmen in Lazarett, Grab oder Gefängnis sitzen werden, (das Letzte der Ort für die Hunderte, die bei jedem schweren Gefecht mit Nerven und Willenskraft zusammenbrechen)... es ist nicht schwer, zu solchen zu reden. Denn sie haben ja die Voraussetzung auch der Weihnachtsbotschaft, die Sehnsucht nach Erlösung von dieser Welt. Wir erleben eine der furchtbarsten Katastrophen mit, das Ende eines ganzen Weltzustandes, den man später mit dem Ausdruck:| Wachsen und Verbreitung der europäischen Kultur benennen wird! Dieser Weltzustand geht zu Ende; und das ist von den schwersten Wehen begleitet. Aber eine solche Zeit war ja auch die Geburtsstunde des Christentums; und die ganze eschatologische Gedankenwelt, die von Lukas bis zur Offenbarung das Neue Testament durchzieht, ist nun wieder lebendig, nicht in konkret-phantastischem Sinne, sondern als Welt {verneindes}, Ewigkeitsgreifends Empfinden. Ich weiß nicht, ob Ihr in der Heimat auch so empfindet, oder ob| Euch Weihnachten noch die gleiche immanenzselige Freude der Kinderzeit und Vergangenheit ist. Ihr seht den Untergang nicht so wie wir und habt noch Menschen, die Ihr liebt, um Euch. – Aber ich muß Dir doch danken, daß Ihr uns immer ein solches Weihnachtsfest geschenkt habt, daß die Erinnerung daran die ganze Vergangenheit verklärt und wehmütig in die Gegenwart leuchtet.

Dir wünsche ich Kraft und Frische und Euch allen die alte Schönheit der Weihnacht in Bethlehems Kirche und Neuenburgerstrasse.1 Denkt auch an uns!
Dein c.

Fußnoten, Anmerkungen

1In der Neuenburgerstraße stand das Pfarrhaus der Tillichs nur unweit der Gemeinde Bethlehemkirche, in der b Pfarrer war.

Register

aTillich, Johannes Oskar
bTillich, Johannes Oskar
cTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/193(14)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
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Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 23. November 1916
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Postkarte von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 26. Januar 1917

Entitäten

Personen

Bibelstellen

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 19. Dezember 1916, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00527.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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