Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 14. Dezember 1914

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Der editierte Text

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a, d. 14. Dez.
Lieber b!

Noch 10 Tage und es ist Weihnachten, und ich bin nicht bei Euch, das erste Mal in meinem Leben! Und doch werde ich bei Euch sein. Am 23ten Abends werde ich in Deine Schlafstube gehen und unter c Hilfe die Baukästen herbeischleppen und unter dem – ich weiß nicht wann – von d geschmückten Weihnachtsbaum auf Zeitungspapier ausschütten, und dann werde ich eine Krippe bauen, im Stil eines zerschossenen französischen Bauernhauses, so eins, worin ich wohne, und derweil wirst Du Klavier spielen, und mit Bauplänen im Kopf werde ich einschlafen. Und am 24ten Morgens werde ich eiligst zu Ende bauen und die übrig gebliebenen blauen Steine in dem alten Kasten unter den Weihnachtstisch stellen und dann schnell noch in die Oranienstraße gehn, um Dir den Lutherkalender zu kaufen. Und dann werde ich Brühkartoffeln mit Euch essen und nach Tisch mich mit e über die Verteilung der Pralinées auf die Teller veruneinen, dann in die Kirche stürmen und konstatieren, daß auch in diesem Jahr am rechten Weihnachtsbaum 15, am linken 11 Lichter sind. Dann werde ich mir von der eben entwischenden| f ein gesegnetes Weihnachtsfest wünschen lassen und nachher entweder mit g zur Potsdamer Brücke gehen, um für h Kraftschokolade zu kaufen – zurück natürlich auf i Befehl, die es bezahlen will, aber kein Geld bei sich hat – fahren; oder mit j eine Partie Schach spielen, bis es klingelt und k und l kommen, und Du durch die Tür rufst: Hier kann niemand mehr rein! Und dann sitzen wir in Deinem Zimmer und warten und erzählen uns was und werden müde; und dann wirfst Du auch m heraus, und sie kommt, und dann kommst Du selbst und die Türen gehen auf und der seligste Moment des Jahres ist da, und Du spielst: Vom Himmel hoch... {u.} 1 u. 2 und betest... diesmal auch für den, der da draußen Weihnachten feiert... und dann gehts an die Geschenke, diesmal in preußischer Ordnung vom Jüngsten anfangend... aber ich habe schon längst mit einem Blick das Wesentliche erhascht und wundre mich, daß diesmal mein Platz leer ist... und dann gehts in die gute Stube und ich freue mich über den Kuß des Dankes... freilich weiß ich nicht recht, wofür – diesmal...| und dann blase ich das Licht in der Krippe und die kleinen Kerzen unten aus und dann breitet n die Fülle ihrer Überraschungen aus, und dann geht man wieder an den Weihnachtstisch... und dann wieder zurück... das Häppchen Neunauge, was jeder kosten darf, hat Appetit gemacht.. und dann....

Verzeih den Hauch der Sentimentalität, der über diesen Zeilen liegt; so schlimm ist es nicht; denn während ich so mit Euch bin im Geist, werde ich auch hier Weihnachten feiern, ein Weihnachten ohne gleichen in dem furchtbarsten aller Kriege unter dem Donner der Kanonen in Feindesland, Offizier in der siegreichen deutschen Armee, Träger des eisernen Kreuzes, und was mehr ist, Träger der Weihnachtsbotschaft an Tausende von Herzen, die empfänglich sind, wie nie zu vor und nie wieder: Das ist so groß und so erhebend, daß der Ton der Wehmut überklungen wird von den starken, mächtigen Akkorden des Heldenkampfes rings um mich her.

Ein Bild freilich wird dazwischen aufzucken, ein drittes Weihnachtsbild, wie eine Vision, noch zukünftig, wie ich in einer kleinen Wohnung in o 2 Menschen unter einem Weihnachtsbaum| stehen, ihrem ersten Weihnachtsbaum in ihrem Heim.... Doch genug davon, damit der andere Ton nicht siegt. –

Und nun wünsche ich Dir ein schönes, wertvolles Weihnachtsfest; und wenn Du in diesen Tagen nicht nur den p, sondern auch den q zum ersten Mal vermißt, so sei doch froh mit mir, daß ich all das Große so unmittelbar mitmachen kann. Und wenn dieses Fest in diesem Jahr, wo eine Welt sich umdreht, etwas anders bei Euch ist als sonst, so ist es doch wert, dieses Weihnachten in vollster Anteilnahme gefeiert zu haben, von dem noch in Jahrhunderten die Rede sein wird.

Wann aber wird wahr werden, was die Engel singen: Friede auf Erden? Oft schon hat mich die Sehnsucht nach Hause gepackt; alle Leute haben hier nur die eine Frage: Wann wirds zu Ende sein? Und doch ist es unabsehbar! Sogar, und das ist mir ein großer Schmerz, ist unabsehbar, wie lange wir hier noch liegen werden. Ich dränge nach vorwärts und wärs in r. Aber es geht nicht vorwärts. Der große Sieg, das ist mein Weihnachtswunsch!

Dein s.

Fußnoten, Anmerkungen

Register

aBieuxy
bTillich, Johannes Oskar
cSeeberger, Elisabeth
dSeeberger, Elisabeth
eSeeberger, Elisabeth
fSchmidt, (Frau)
gSeeberger, Elisabeth
hTillich, Margarete
iSeeberger, Elisabeth
jSeeberger, Elisabeth
kTillich, Marie
lTillich, Margarete
mWinkler, Toni
nWinkler, Toni
oHalle (Saale)
pTillich, Oskar
qTillich, Paul
rRussland
sTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974., bMS 649/193(12)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Bieuxy - unbekannt
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Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 14. Dezember 1914, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00410.html, Zugriff am ????.

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