Brief von Paul Tillich an Marie Tillich-Scheidemantel und Margarete Tillich vom 17. Dezember 1914

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Liebes Großmütterlein – auch Enkelin genannt!
Liebe Tante Grete – auch Gretsch benamst!

Etwander schreibt Ihr mir Lieblichkeiten, was ich Euch danke; denn jedwede Post, von Hause entsendet, macht Freude in fernem Land. Auch wenn sie inhaltlich mit guten Dingen verbunden ist, würde niemand hierzulande sie verachten. Wie wärs, kleine liebe Großmama, wenn Du Dich im Müggelsee auf ein Flugzeug setztest, mit Zwischenlandungen nach Nogent zu unserer Fliegerstation flögst, und von dort von mir auf meinem Schimmel abgeholt würdest! Er ist stark genug Dich noch zu tragen! Schlafen würdest Du in meinem Schrank-Bett, das ich mit keinem Bett vertauschen möchte! Und dann würde ich Dir alles zeigen, zu Fuß, zu Pferde, zu Wagen, zu Auto, wie Du befiehlst. Erst würden wir aus unserm vergitterten Eisenfenster herausgucken, und an einer der Protzen,1] die dort stehen, unsern Weihnachtsbaum sehen. Dann würdest Du eine weite dreckige Flucht mit sehr viel Mist und Stroh sehen, die Reste eines früheren Biwuaks2]; vielleicht auch (pst! nicht vorlesen!) auf einem Querbalken 1/2 m über der Erde einen Körperteil, von dem man nicht spricht, minder bekleidet, aber in Tätigkeit, mit einem dazu | gehörigen Soldaten, den seine Kameraden eben in diesem Augenblick mit faulen Birnen beschmeißen, ein Bild für Teniers (bei Frede zu erfragen!) – dann würden wir herausgehen auf unsern Hof, durch tiefen Dreck waten, und am Eingang einer tiefen Höhle stehen, in der viele Pferdestehenstampfen, in der es raucht und in der Weihnachtslieder gesungen werden. Dann würden wir rechtsum gehen eine Straße aufwärts an 10 Soldatengräbern vorbei mit weißen Holzkreuzen und Epheu eine Viertelstunde bis zu einem Rübenfeld. Da würde ich Dir ein ganz tiefes Loch zeigen dicht am Weg, so tief, daß Du stehend drin verschwinden würdest, und würde Dir erzählen, daß da vor 8 Tage eine schwere französische Granate explodiert ist. Dann würde ich sagen: Nun kehrt! Denn es ist 10 Uhr. Die Luft ist klar, gleich werden die Franzosen anfangen. Kaum gesagt, würde ein mächtiger Krach losgehen, Du würdest Todesschreck kriegen; ich aber lachen und sagen: das sind ja unsere schweren bei Tartiers, da drüben: Wenn es so zischt, dann sind es unsere. Auf einmal ein Gerumpele und gleich nachher 3 scharfe Knalle. Ich würde Dir drei Rauchwolken zeigen und sagen, dahinten: drei feindliche Granaten in den Schützengräben bei Nouvron; die vierte war ein Blindgänger, | der nicht explodiert ist, wie so viele französische. Da wird noch manch Bauer beim Pflügen in die Luft gehn! Auf einmal siehst Du einen kleinen Blitz in der Luft und dann ein weißes Wölkchen, das immer größer wird. Und dann hörst Du einen Knall und ein ganzen hohes scharfes Zischen. Sie streuen mit Schrapnells die Höhe ab, erläutere ich. Sie verschwenden viel Munition darauf und treffen fast nie was. Wieder macht es bumbum, und dann nehme ich Dich plötzlich an der Hand und¿¿¿renne mit Dir an die Wegböschung und rufe: „ducken“; ich habe ein Zischen gehört, und Du auch, gemein, angreifend, teuflisch, eine feindliche Granate, die auf dem Rübenfeld einschlägt, wo wir herkommen. Ich bleibe geduckt bis die nächste Ladung vorbei ist, dann gehen wir nach Bieuxy zurück. Du fragst mich, was das für ein Hämmern ist und Knacken; ich horche und begreife endlich, daß Du das französische Maschinengewehr und die Patrouillenschießerei bei Nouvron meinst, das man Tag und Nacht hört. –
Dann ruhst Du Dich in meinem Zimmer aus von der angreifenden Expedition, findest aber, daß die ca. 400 Fliegenleichen nunmehr zu Weihnachten von den | Wänden entfernt werden könnten, nimmst Dir einen Stuhl und reibst sie mit der Fliegenklappe ab. Dann findest Du, daß auf meinem Schreibtisch 20 alte Schachteln, noch mehr Briefumschläge, alte Zeitungen u.s.w. überflüssig die kriegerische Verwirrung vermehren und machst Dich an die Arbeit. Daß ich meine Beine statt auf Dielen und Teppich in eine Strohkiste halte, macht Dir viel Kopfschütteln. Dann führe ich Dich zu dem Gutshof, wo wir Mittag essen. Exzellenz führt Dich zu Tisch und plaudert mit Dir über die 70er Jahre; er hat sein Eisernes Kreuz 2ter damals3] als Leutnant verdient. Es gibt Champignons aus der Höhle gegenüber Soissons, wo wir beide am nächsten Tag hinfahren und Sekt, den letzten in ganz Nordfrankreich. Denn es ist ja Weihnachten. … Wie wärs, liebes Großmampilein! Hättest Du nicht Lust? Es wird mir eigentlich recht schwer, ein Weihnachten mir vorzustellen, wo ich nicht an Deiner rechten Seite sitze! Dir wird dieses Weihnachte ja auch nicht leicht werden! Und doch, ob hier, ob dort: Es ist Weihnachten und nirgends mehr, als in den Höhlen an der Aisne, beim brennenden Christbaum, unter dem Donner der Kanonen. Krippe und Höhle, das ist eins – Trotzallem:

Fröhliche Weihnachten!
Euer treuer Enkel und Neffe Paul.
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