Brief von Maria Hirsch an Paul Tillich vom 7. Juni 1913

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Berlin , den 07.06.1913

Lieber Paul!

Soeben bin ich von einem schönen Spaziergang heimgekehrt. Einen schönen Sonntagsstrauß habe ich mir mitgebracht. Kornblumen, Margeriten und blühendes Gras. – Nun will ich an Sie schreiben. Haben Sie recht herzlichen Dank für Ihren Brief, der mir viel zu denken gegeben hat. Was ich mir so zusammenreime, muß Ihnen ja alles höchst ungereimt vorkommen; denn Sie haben | ja über alle Probleme unzählige Male öfter und hoffentlich auch gründlicher nachgedacht als ich. So sind Sie auch zu bestimmten Resultaten dabei gekommen, wa sich von mir nicht sagen kann. Sie finden es herrlich, daß ich „lebe“. Ja, für mich ist das Leben in der Natur eine Quelle reiner Freuden. Aber „leben“ kann ich meinen jetzigen Zustand nicht nennen. Im tiefsten Innern bin ich genau so unbefriedigt wie vorher. Sie sagen Bücher machen alt, Bäume jung. Was heißt nun jung sein? Ich | meine, der ist jung, der sich noch einer Sache, einer Persönlichkeit, etwas Höherem und Reinerem ganz und gar hingeben kann. Darum sind Idealisten länger jung, darum bleiben wahre Christen immer jung. Und ich glaube auch, daß das das Einzige ist, was uns jung macht und jung erhält: die Hingabe an das Heilige und das Reine (das wir Gott nennen). Ich gebemich der Natur hin und fühle neue Kräfte in mir erwachen. Doch dann wieder werde ich um so fähiger, die große Leere zu empfinden. Denn die Freudig| keit, die ich aus diesem Leben schöpfe, verläßt mich meist wieder in dem schrecklichen Alltagsleben. Da gib Dich doch dem anderen hin, sage ich mir. Zwei Gründe, zwei Hindernisse bestehen: der Zweifel und die Bequemlichkeit. Dann gib Dich doch dem Zweifel hin! Hindernis: Bequemlichkeit und Furcht vor dem uferlosen Meere. Vor einiger Zeit sagten Sie mir, wenn ich einmal angefangen hätte zu zweifeln, könnte ich nicht anders, ich müßte dem Zweifel nachgehen, mich ihm hingeben und auf diesem Wege | versuchen, klar zu werden. Da denke ich dann oft jetzt, ich komme rückwärts anstatt vorwärts; ich wäre es mir schuldig, zu grübeln, Philosophie zu treiben u.s.w.und so weiter Und anstatt dessen lebe ich in den Tag hinein, schwärme und kriege ab und zu Katzenjammer. Sie werden sich fragen, warum ich so von mir schreibe. Ich denke nämlich, daß man nur in sich selbst einen andern Menschen erkennen kann. Sie haben den Weg des Zweifels betreten und – fürchten dem „großen Leben“ anheim zu fallen. | Arm macht es und alt, uralt macht es, denke ich. Gewiß, man gibt sich ihm hin. Das ist aber eine andere Hingabe. Sie ist nicht die Tat, die alle Willenskräfte des ganzen Menschen erfordert, nein das ist sie gewiß nicht. Sie ist die Folge der inneren Leere, der Verzweiflung über diese Leere. Ich denke,oder vielmehr ich fühle es so, wenn ich versuche, mich in Ihre Lage zu versetzen. So macht dieses Leben nicht arm sondern ärmer. Sie fürchten, diesem Leben zuver fallen,* ich schrecke davor zurück, dem bequemen und platten Leben * haben gezweifelt und können sich doch nicht hingeben. | der Alltagsmenschen anheim zu fallen, weil ich weder zweifeln noch mich hingeben will. Welcher Weg führt daraus hinaus? Ja, wenn ich ihn wüßte! Emanuel sagt dann einfach zu mir: Anstrengen des Willens, Kampf. Ich weiß nicht, ob alle Menschen dadurch zum Ziele kommen, glaube es aber nicht. Die Naturen sind zu verschieden. Manche Menschen suchen ja durch irgend eine große Gefühlserregung den Umschwung herbeizuführen. Solche „Bekehrungen“ sind mir aber stets mehr merkwürdig als glaubhaft erschienen: Jedenfalls | scheidet das für mich vollkommen aus. Was nun? Ich weiß es auch nicht. Bitte, seien Sie mir nicht böse, lieber Paul, daß ich das alles so geschrieben habe. Wahrscheinlich wird es Ihnen sehr dumm und oberflächlich, oder ganz und gar verkehrt erscheinen. Und doch würde ich mich freuen, wenn Sie mir antworten würden. Vielleicht würde mir dann auch ein wenig zur Klarheit geholfen. Daß mir Klarheit Not tut, dafür wird Ihnen dieser Brief Beweis genug sein, denke ich.

Mit recht herzlichem Gruß
Ihre Maria Hirsch.
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