Brief von M.H. Böcking an Paul Tillich vom 23. Mai 1913

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Berlin , den 23.05.1913

Lieber Herr Tillich!

Für Ihre Zusendung besten Dank! Daß ich zu voller Mitwirkung bereit bin, brauche ich nicht zu wiederholen. Aber ich muß es mir doch etwas nach meinen subjektiven Notwendigkeiten legen können. Also: Mein Mündliches wird etwa Anfang November steigen. Da kann ich natürlich unmittelbar vorher nicht die Muße, die zu drei Vorträgen gehört, aufbringen. Außerdem liegt mir das mir in diesem interessanten Zyklus zugedachte Thema gar nicht. Ich bin nicht Natur-, sondern Kultur- und Lebensphilosoph. Einen | kosmischen Universalvitalismus aus zu proklamieren halte ich für höchst bedenklich und anfechtbar. Und von Naturwissenschaft verstehe ich so wenig, daß ich über das Thema unmöglich reden kann. Dagegen würde ich in dieser Reihe sehr gern sprechen über den "Tod als Lebensmacht". Ich glaube nicht, daß sich das mit dem Unsterblichkeitsthema kreuzen wird. Wohl aber wird es sich gut in den Zusammenhang fügen, also etwa Ende Januar an die Reihe kommen. Und Januar u.und Februar stehe ich Ihnen am vollsten zur Verfügung. Für den März kann ich nicht im voraus garantieren. Zwei Rilke-Verse lese ich eben: | "O Herr gib jedem seinen eignen Tod Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not." und: „Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben, nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn und dienend sich am Irdischen zu üben, um seinen Händen nicht mehr neu zu sein." dazu Max Klinger, vom Tode u.und Holbeins Totentanz. Sie sehen also die "Richtlinien". Metaphysik des Todes. Sinn des Todes als Ende nicht als Anfang, für das Leben, nicht für des Jenseits. Der "eigne" und der "fremde" Tod (wissen Sie, wie Liliencron starb?), Todessehnsucht und Todesfurcht | der zu frühe und zu späte Tod, der Selbstmord, der Mord, der erwartete und der plötzliche Tod: Kurzum: Sie sehen, es läßt sich darüber einiges sagen, das sich recht wohl in das Ganze hineinfügen wird. Im ethischen Zyklus würde mir - offen gestanden - die "Ethik des geselligen Lebens" und die "Wertung des Staates" weit mehr liegen als das abgedroschene Sozialproblem. Aber wenn es sein muß, nehme ich auch dies. Schreiben Sie mir gelegentlich, wie sich das übrige gemacht hat, und wie Sie zu meinem Vorschlag stehen. Ich sitze z.Z.zur Zeit über meiner Dissertation, die noch im Juni fertig gestellt werden soll. Für Juli und August gehe ich ans Meer und kehre Anfang September zum Pauken hierher zurück. Es leben die Examina! Grüßen Sie Dr. Wegener! Auf Wiedersehen!

Ihr
M.H. Böcking
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