Der editierte Text

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Geliebte a!

Unendlich froh hat mich Dein Brief1 gemacht, mir einen Mut und eine Kraft in die Seele gegossen, die stark genug sind, allem zu trotzen, was uns an dem völligen Einswerden hindern könnte. Denke nicht, daß ich Dir früher ferner war; aber ich war Dir anders nah; Du warst mir der Inbegriff all dessen, was in mir zur Ekstase drängt in ihren Heiligkeiten und in ihren Abgründen; jetzt aber bist Du mir die Erfüllung meines Willens zu einem starken Leben aus den Tiefen meines sittlichen Bewußtseins heraus, Du bist mir das, worin meine Sehnsucht nach absoluter persönlicher Gemeinschaft ihr Ziel und ihre Ruhe findet, Du bist für mich nicht nur der unendliche alle Dämme zerbrechende Gehalt; Du bist auch die in sich selbst vollendete Form meines Lebens; nach Form habe ich gesucht in den letzten Monaten; ich glaubte nicht, daß ich sie finden würde; ich der Deutsche, der Nordländer, der Ekstatiker... und ich wußte nicht, daß sie da ist, daß Du sie bist und die Gemeinschaft mit Dir. Nun habe ich jene andre Seite durch einen harten Schnitt von mir getan, und nun brechen aus den Tiefen die verborgenen Quellen der Liebe, die den anderen will um des Vollkommenen willen, was in der Gemeinschaft allein Wirklichkeit werden kann; ja ich liebe Dich, mit Seele und Leib und Geist, mehr als mich selbst!

Du bist ganz Frau, und ich bin Mann geworden; weil ich das aber bin, darum muß ich kommen, Dich aufzurütteln aus Deinem Schlaf; nicht weil ich ungeduldig bin; wie sollte ich; gehört uns doch die Ewigkeit! Aber es gibt ein hartes Gesetz, das sich in mir jetzt durchringt, auf dem das Leben der Persönlichkeit und der Gemeinschaft beruht; und das ist das Gesetz der Wahrhaftigkeit. Ich sehe jetzt erst mit Staunen, in welche Netze der Unwahrheit ich mich begeben hatte; vieles, das meiste, habe ich in jenen Tagen zerrissen; wir haben aber das Schwerste noch vor uns, und es darf nicht einen Augenblick länger hinausgeschoben werden, als es um der Liebe willen gegen den anderen nötig ist; denn über der Wahrhaftigkeit| steht die Liebe, aber nur die Liebe, die den andern auch durch Schmerz zum Höchsten führen will; und die ist immer schließlich eins mit der Wahrhaftigkeit. – Glaube nicht, daß ich fiebere; ich bin gesund und sehe die Dinge mit unerhörter Klarheit; ich bin so gesund, daß ich in manchen herrlichen Augenblicken mich zurücksehne nach dem Fibern der vergangenen Tage; aber das ist ja das Wunderbare, daß diese Gesundung, diese fast nüchterne Klarheit den Willen zu Dir zur unbedingten, absoluten Selbstgewißheit und die Liebe zur tiefsten, heißesten Glut geführt hat.

Und weil ich so klar sehe, so sage ich noch etwas Anderes: Wir haben nur dann ein Recht, eins zu werden über den unendlichen Schmerz eines Dritten, wenn dadurch etwas geschaffen wird in ihm und in uns, was als Menschenwerk vor Gott höher steht, als der Weg, in den Du durch ein Verhängnis getrieben bist; ich klage das beklage es nicht mehr; denn es ist der hart schmerzliche Prüfstein des unbedingten Wertes unserer Liebe; hier aber hast Du mehr zu entscheiden als ich; für Dich und mich ist die Sache entschieden; wir werden nicht auf blumigen Wiesen wandeln, wir werden kalte, stürmische, dunkle Wege mit einander wandern; weil wir Licht und Wärme bringen müssen für viele. Wie aber ist es mit ihm?2 Hast Du die Gewißheit, daß das, was jetzt ist, im Grunde auch seinetwegen nicht sein darf? Hast Du sie – und das ist ja sicher: Wirst Du innerlich weniger, in Eurem Zusammensein, so wird auch er es – dann warte nicht lange mehr!

Weißt Du nun, warum ich nicht zu Euch kommen kann? Aber wir müssen uns sehen; und ich verlange es als erste Tat der Wahrhaftigkeit, daß Du es erzwingst, vielleicht damit eine erste Hülle von Dir werfend, hier, in d, wo Du willst, vor Weihnachten, nach Weihnachten. In diesen Tagen kommt e f; da geht nichts; sonst habe ich nur Sonnabend – Sonntag.* Am besten, Du kommst her.

g, ich bin zu allem bereit, um mit Dir leben zu können, Ich umfasse Dich mit der Liebe, die tiefer ist, als die Wurzeln des eigenen Seins.

*Im Notfall lasse ich Freitag ausfallen und habe dann Mittwoch bis Sonntag.


Fußnoten, Anmerkungen

1Liegt nicht vor.
2Gemeint ist b, der erste Ehemann von c.

Register

aTillich, Hannah
bGottschow, Albert
cTillich, Hannah
dJena
eTillich, Margarete
fTillich, Klaus Eberhard
gTillich, Hannah

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976, bMS 721/2 (17)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom November 1921
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich wahrscheinlich vom 22. November 1921

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von November 1920, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01288.html, Zugriff am ????.

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