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Hannah, liebe Geliebte,

nun will ich zu Dir reden; endlich einmal wieder ganz frei und nur zu Dir! Und ob Du den Brief bekommst oder nicht: Die Möglichkeit schon, daß Du ihn bekommen kannst, gibt mir Glück und inneren Frieden. Hannah in Dir lösen sich, wie in jener Nacht, alle Spannungen meines Lebens, alles Harte, Bittere, alle Qual; und ich kann ruhen, ruhen wie in der kampflosen Unschuld der Kindheit, ruhen wie im Gebet, das erhört ist, ruhen, viel tiefer und schöner als in den Armen des Schlafes; nicht immer, nicht lange, aber doch einmal, irgendwann, wenn es zu viel geworden ist.

Du schreibst mir so viel herrliche Worte, daß ich fast zu klein bin, sie zu fassen, Du schenkst mir in Deiner Liebe, in Deinem Widerstand, in Deinem Ringen und Suchen, die ganze Welt des „Anderen“, das doch eins ist mit mir. Es ist so schwer, auf solche Briefe zu antworten, weil alles Einzelne eingebettet ist in einen Strom, in dem es getragen ist von Kräften, die tiefer sind als alle Sachlichkeiten. Und doch ist auch vieles Sachliche dabei, von dem ich lange mit Dir reden wollte. Du hast Recht – und Deine Worte haben mich tief bewegt – daß es eine Herabwürdigung des Anderen ist, wenn man ihm die Verantwortung abnimmt, wenn man alle Schuld an sich raffen und sich durch sie erhöhen will; es ist auch eine Erniedrigung des andern, wenn man ihm den Schmerz der Wahrheit ersparen will. Hat man selber den Schmerz in sich getragen, ausgetragen, wie ein Kind, das wächst, dann kommt die Stunde, wo er hervorbrechen muß, weil er reif geworden ist, und nun nicht mehr zerstören, sondern aufbauen kann. Aus der Reife Deines Schmerzes muß das Wort an Albert geboren werden; dann wird es ihm helfen; wann diese Reife da ist, das kannst nur Du wissen; dann aber hast Du vor Gott und Menschen das Recht und die Pflicht zur vollen Wahrheit.

Trotz der Erregungen, die Deine Nachrichten brachten, erhole ich mich langsam; aber der innere Schwung ist noch nicht da, die zusammengefaßte Energie, die zur großen Schöpfung führt. Ich habe etwas das Gefühl, daß ich mich durch dieses Semester hindurchwinden muß; in jeder Beziehung, Dir und der Arbeit gegenüber. Ich glaube ich stehe in einer großen Krisis: der große Rausch der letzten Jahre ist, wie der Rausch jedes Mystikers und Ekstatikers, nicht ohne weiteres wiederholbar; und dann ist ein Schmerz und eine Leere da, die unruhig und unsicher machen. Die strenge Abgeschlossenheit des Winters half darüber hinaus; aber jetzt scheint eine Spaltung in mich zu kommen: Frühling, Menschen, Arbeit. Da ist es, als würde ich nicht die große Linie finden, von der ich doch schließlich nur leben kann. Die Natur ist so ungeheuer mächtig in mir, daß sie mich nicht ganz der Arbeit überläßt, und die Menschen kann ich nicht ganz bejahen, weil die Arbeit zu mächtig ist. – Gestern war ich in einem Seminar für Politik und hielt eine stark wirkende Diskussionsrede über Philosophie und Politik; in dieser Atmosphäre nun, es waren viele sehr intelligente junge Politiker u.s.w.und so weiter da, fühlte ich wieder, wie gewaltig die Aufgaben sind, und an wie bedeutungsvoller Stelle ich durch meine Richtung stehe, und wie auch viele auf mich hören; und da ging mir die ganze Verantwortung auf, die ich geistig habe, das Glück und die Last, sie zu haben. – Und ich dachte an all die verwirrende Vielgestaltigkeit, in der ich lebe, die jetzt zum größten Teil nicht mehr Anregung und Reichtum, sondern Verarmung ist. Und ich dachte und denke daran, welche Erlösung meines Werkes es wäre, wenn Du da wärst, und in Dir Leben und Arbeit in eines gingen. Und ich weiß, daß der Tag kommen wird, wo ich vor Dich hintrete und noch über unsre Liebe hinaus mein Werk zu Dir sprechen lasse: komm oder zwinge mich, Dich zu vergessen. – So, Hannah, schreit nicht nur jede Faser meiner Seele nach Dir, sondern auch mein Werk fordert Dich mit der Härte des Schicksals! Lebe mir und lebe ihm!

Geliebte, Geliebte!
Dein Paul.
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