Brief von Erich Gabriel an Paul Tillich vom 23. Juli 1930

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Zethau, den 23. Juli 1930.

Hochverehrter Herr Professor!

Aus dankbarem Herzen muß ich Ihnen schreiben. Befreiend für mich waren Ihre Worte, die Sie am 22. Juli abends vor der Hörerschaft des Deutschlandsenders sprachen.1] Sie waren auch stark belebend, da sie mir die Überzeugung einpflanzten, daß Sozialismus und Religion keine Gegensätze sind. Sozialismus aus Erfahrung meiner Schlosserzeit (1919–1921) und Religion, vertieft und gewachsen unter dem Einfluß meines verehrten Seminardirektors in Dresden-Neustadt, eines wahrhaft edlen, frommen Menschen, stellten sich in mir während meiner Seminarzeit entgegen. Seit jenen Tagen trieb es mich zur Religion aus natürlichem Hange und seelischer Grundstimmung. Schon bei den Mystikern fand ich Gedanken, die in mir die Gewißheit hinterließen, daß Sozialismus im wahrsten und heiligsten Sinne zarte, innige Fäden hinüberwirke in die ewige Sphäre der Göttlichkeit. Der Verkehr mit Sozialdemokraten innerhalb unseres Lehrervereins, die mich gern für die Partei gewinnen möchten, ließen mich wanken an der Reife und Würdigkeit der verbreiteten materialistischen Ideen der Sozialdemokratie. Als ich mich mit Walther Rathenau beschäftigte und seiner sozialistischen Weltanschauung, fand ich im tiefsten Grund bestätigt die Worte, die Sie, verehrter Herr Professor, zu uns sprachen. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich mich schon seit Freitag, als die "Sendung" kam, darauf freute, Sie über dieses Thema sprechen zu hören. Da ich hier oben im Erzgebirge, abgeschieden von der Welt, als Junglehrer lebe, wäre es mir eine herzliche Freude, wenn ich erführe, wo ich mich mehr mit den Fragen des Religiösen Sozialismus auseinander setzen könnte. Erlaubt es Ihnen Ihre Zeit nicht, bitte, Herr Professor, verzeihen Sie mir, so gehe ich selbst meinen Weg zum Ziele.

Es dürfte Sie vielleicht interessieren, was ich innerhalb der sächsischen Volksschullehrerschaft als Erfahrung gefunden habe.

Die Leitung des Sächs. Lehrervereins und ein großer Teil seiner Mitglieder fußt auf dem sozialdemokr. Parteiprogramm. Alle Versammlungen, die ich besuchte, haben mich stets| innerlich tief erregt, weil trotz allen Redens über Weltanschauung und Schule eine sonderbare Kluft innerhalb der Lehrerschaft besteht. Der zwingende Gedanke: Niederlegung des Religionsunterrichtes entfremdet die Mitglieder untereinander. Der echte Volksschullehrer ist im Grunde stets doch edler Sozialist, der aber nicht frei zu lösen ist vom religiösen Erlebnis. Sozialismus und Religion ist innerhalb des Kreises meiner Amtsgenossen die schwierigste Frage, die je erörtert wurde, weil ein großer Teil meiner Kollegen in der Religion nur die Kirche sieht. Der Kampf geht fort. Man weiß die Kluft und scheut sich deshalb, eine Urabstimmung über diese Fragen herbeizuführen. Sehr verehrter Herr Professor, vielleicht können Sie einige Literatur über diese Gedankengänge empfehlen.

Bitte verzeihen Sie mir noch einmal, daß ich Ihre kostbare Zeit in Anspruch nehme, aber das Vertrauen zu Ihnen befahl mir zu schreiben.

Mit Hochachtung bin ich Ihr ergebener

Zethau bei Mulda (Ahm. Freiberg)

Erzgebirge

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    • Tillich, Paul, Was ist religiöser Sozialismus? Rundfunkvortrag beim "Deutschlandsender" am 22. Juli 1930.