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Liebste Hannah!1]

Ich war so froh, vor dem neuen Jahr deine Stimme noch einmal zu hören. "Ich lieb dich, Hannah" – sage ich mit Erdmuthe --- und nun der Kriegsbericht: Im Zug Arbeit am Vortrag und Dogmatik die ganzen drei Stunden. Tee bei Ulli, Telephon – Umziehen – Rundfunk. Ich werde von einem netten süddeutschen Herrn empfangen, frage ihn einiges. Dann ist es so weit. Der Sender wird eingeschaltet; er meldet mich an. Ich sitze auf einem Lesestuhl, vor mir ein Pult. In Mundhöhe eine kleine weiße Platte, auf die man spricht. In dem Augenblick, wo man eingeschaltet ist, hört die Privatexistenz auf: Jedes Wort, jeder Laut geht durch die ganze Welt. Ich lese, erst etwas langsam und befangen, dann schneller und frischer. Zweimal ängstigt mich Hustenreiz; aber es wird nicht allzuschlimm. Vor der letzten Seite drückt man auf einen Knopf. Der Ansager kommt herein, sagt nach Schluß, daß man fertig ist, zahlt das Geld; und alles ist vorbei - - - - | Das Merkwürdigste ist die Isolierung: Man sucht und findet nicht. Ich suchte dich, Käthe, Vaterchen, Elisabeth etc, fand niemand. Man bleibt in völliger Isolierung. Schließlich rettete mich folgende Vorstellung: Ich sitze hinter einem schwarzen Vorhang, an der anderen Seite ein Saal voller Menschen, die ich nicht sehen kann, und ich lese ein objektives, in sich schwingendes Kunstwerk vor. Sobald ich das hatte, ging es gut. – Der Ansager sagte, es wäre ein höchst interessanter, oratorisch glänzender Vortrag gewesen. Frede, mit dem ich gestern telephonierte, hat zugehört und jedes Wort verstanden. ---

Am Sonntag Abend ging ich mit Ulli nach dem Abendbrot in zwei neue Bars, je 1/2 Stunde, dann zu Roberts, diesem amerikanischen Restaurant am Kurfürstendamm. Nach kurzer Zeit sah ich Kurt Leese und Frau durchs Fenster gucken und mich erkennen. Ich hole sie rein und wir sind lange mit ihnen zusammen | Ulli wundert sich, daß es so etwas noch gibt, findet sie aber nett. --- Sylvester langer Schlaf, viel Telephon, Gang aufs Ministerium mit Brief; Minister nicht da. Zurück. Mittagessen mit Carolus. Wir lieben uns wie immer. Zeitschriften-Pläne2] u. s. w. Zurück und Versuch, Behrens zu kriegen. Gelingt sofort durch die Schauspielschule. Sie ist am Telephon, teilt mit, daß sie morgen die Wohnung räumen müssen; ich soll schnell hinkommen, tue das und finde: Dieter im Bett, Herrn Behrens, einen hübschen Jüngling (ihr Schauspielpartner), sie in wunderschönem Kleid. Unter viel Schwierigkeiten und Geschrei von Dieter wird Kaffee gemacht. Er ist wüster denn je. Die Sache mit der Scheidung stimmt in keiner Weise. Sie ahnen gar nichts davon. Ich gehe dann mit ihr weg; wir setzen uns nach 1. Stunde ins Kaffee. Sie erzählt von ihrem Krach, der aber anscheinend wieder in Ordnung gebracht ist. Sie hat all ihre Freundinnen verloren, ist wilder und nervöser denn | je, will ihren Sohn nach Chemnitz bringen. Vielleicht fahren wir zusammen über Dresden. Für ihn will ich jetzt etwas beim Rundfunk versuchen. --- Dann nach Haus, Umziehen, mit Ulli zu Sachs. Daselbst auch Kera, die sehr viel durchgemacht hat. Der alte Herr nimmt mich in Beschlag. Dann Abendbrot mit richtigem Karpfen und richtigen Mohnpilen!! Um 1/2 11 zu der Sekretärin der Bergner3]. Dort 3 Männer gegen 1 Frau wie überall in der Welt. Ich traf einen religiös-sozialistischen Bekannten von Wolfers. Um 12 Anstoßen mit Sekt, etwas Tanz. Um 1 Uhr mit Ulli und Kera ins Kleist. Dort ungeheure Menschenmassen. Ulli trinkt eine Flasche Sekt nach der andern. Dann mit einem Freund von ihm und Kera noch eine Tasse Kaffee bei uns. Zwischen 4 und 5 ins Bett. Um 10 auf (ohne Kater). Einen herrlichen Gang mit Ulli durch den Tiergarten. Dann zu Seeberg. Sehr nett. Er sagt mir, daß Richter für mich noch mal eingetreten ist4] und mich sprechen | will. Wir verabreden auf Sonnabend Nachm. um 5. Ich kann also nicht vor Sonntag kommen. Seeberg legt mir einen Lehrbücher-Plan vor, wo ich nach meiner Dogmatik eine Ethik schreiben soll. - - Zwischen 5 und 6 eine Stunde mit Malla, die sich den Druck einer Mutter, einer Schwiegermutter und vieler Verwandter von der Seele redete. Dann mit Ulli jenes Abendbrot, von dem du eine Karte5] bekommen hast – Um 10 ins Bett, bis 10 geschlafen. Dann | telephoniert und diesen Brief geschrieben. Der Minister hat Richter mitgeteilt, daß ich ihn am 5ten spreche werde. Also auch am Sonnabend. Seeberg rät mir, in der Theologie zu bleiben. – Heute kamen deine Briefe.6] Vielen Dank!! Frau Eberts schreibt, daß ihr Kind krank geworden ist und sie erst jetzt darum danken kann. – Emmy ist selig über deinen Brief!! – Bitte schicke das gleich an Hermelink, Barfüßertor 17: 1) Meine Habilitationsschrift über den älteren Supranaturalismus. 2) | Meine Doktorarbeit: Über die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie. Beides im Regal rechts am Fenster unterstes Fach rechts.

Liebste Hannah! Ich liebe dich und schreibe bald mehr.
Und dann ein Erlebnis: Ich finde, daß es seelisch tiefer und im echten Sinne schicksalhafter ist, daß ich nicht nach Berlin gekommen bin
Dein Paul.
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    Literatur:

    • Tillich, Paul, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, Breslau 1910 
    • Tillich, Paul, Der Begriff des übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität, dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher, Königsberg 1915 
    • Neue Blätter für den Sozialismus. Zeitschrift für geistige und politische Gestaltung, hg. von Eduard Heimann, Fritz Klatt und Paul Tillich, 1930ff.