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Kötzschenbroda, den 22. April 1928

Verehrter Herr Professor!

Nachdem ich aus Davos in die Heimat zurückgekehrt bin, möchte ich nicht versäumen, Ihnen, hochverehrter Herr Professor, nochmals herzlich zu danken. In den herrlichen vier Davoser Wochen habe ich mich recht gut erholt und vor allem manche geistige Anregung davongetragen.

Was Ihren Gegensatz zu Herrn Professor Grisebach betrifft, so erscheint er mir als dem Schüler beider folgendermaßen: Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß sich die Religionsphilosophie bez. Theologie wie die Ethik von zwei verschiedenen Einsatzpunkten her aufbauen läßt, die Religionsphilosophie von der Erlösung und Gnade einerseits, von dem unbedingten in Fragegestelltsein her andererseits, die Ethik von der Liebe einerseits, von der Not des Menschen, die alle ethische Aufgabe erst begründet, her andererseits. Dabei entsprechen sich Liebe und Erlösung, Bedrohtsein und die Not.

Nun sind Sie, hochverehrter Professor, wie Herr Prof. Grisebach beide "kritische" Denker, d.h. Sie sehen klar die Gefahr der Profanisierung wie der Dämonisierung und bekämpfen diese Gefahren, wenn Herr Prof. Grisebach auch andere| Ausdrücke dafür gebraucht und vielleicht auf seinen ethischen, von der Religionsphilosophie verschiedenem Gebiete gebrauchen muss. Insofern stimmen Sie mit Herrn Prof. Grisebach überein. Diese gemeinsame kritische Haltung war es auch, was mich von dem einen zum anderen führte. Es interessierte mich überaus, das kritische Denken auch auf religionsphilosophischem Gebiete angewandt zu sehen, nachdem ich es auf ethischem bei Herrn Professor Grisebach kennen gelernt hatte. Ich dürfte hier viel von Ihnen, hochverehrter Herr Professor, lernen und bin Ihnen viel Dank schuldig.

Der Unterschied zwischen ihnen Beiden scheint mir nun lediglich darin zu liegen, daß Sie vorwiegend bei dem Infragegestelltsein mit Ihrem kritischen Denken einsetzen, das ethisch der Not des Menschen entspricht, und dies Bedrohtsein mit Ihren großartigen, feinen Begriffen durchleuchten, während Herr Professor Grisebach von der Liebe her, vom Hören und Aushalten des Du her seine kritische Ethik aufbaut, was religionsphilosophisch der Gnade und Erlösung entsprechen würde. Dabei bleibt er in gewisser Weise einseitig; die Probleme der Not (des Betroffenseins) kommen merkwürdig zu kurz, so daß er mit seiner Überbetonung des Verhältnisses des Ich zum fremden Du dieses Verhältnis beinahe zu dämonisieren scheint. Allerdings hat sich in den letzten Jahren diese Einseitigkeit etwas gemildert. Wenn Sie seine Bücher lesen, werden Sie bemerken,| daß die Gegenwart in dieser Hinsicht einen Fortschritt gegenüber den "Grenzen des Erziehens" bedeutet.

Aus dem grundverschiedenen Einsatzpunkte Ihres kritischen Denkens erklärt sich die bedauerliche Tatsache, daß, obwohl Sie Beide zu den wenigen heutigen wirklich kritisch denkenden Philosophen gehören, Sie sich doch gegenseitig schwer verstehen können. Einer scheint dem anderen unkritisch zu denken, weil der andere "von der anderen Seite her" das Problem aufnimmt. Ich bin überzeugt, Sie, verehrter Herr Professor, würden sich mit einem kritischen Ethiker, der bei der Not des Menschen einsetzte, viel schneller verständigen können, und Herr Professor Grisebach mit einem Religionsphilosophen, dessen kritisches Denken sich vorwiegend und primär auf Erlösung und Gnade richtete.

Diese Gedanken über Ihren Gegensatz zu Herrn Professor Grisebach mögen etwas naiv gedacht sein, wie alles, was ein "Schüler" denkt; bis zu einem gewissen Grade "naiv" gedacht ist. Ich möchte auch damit diesen Gegensatz keineswegs auf eine Formel gebracht, sondern lediglich einen Versuch des Verständnisses unternommen haben. – Die zweite Hälfte der Hochschulkurse stand wissenschaftlich nach fast allgemein übereinstimmendem Urteil auf einem etwas tieferen Niveau als die erste; auch ließ die Spannung und das Interesse der Teilnehmer allgemein| etwas nach. Die Philosophie bleibt eben doch die Königin der Wissenschaften. Trotzdem waren einige der Vorlesungen recht interessant. Die Diskussionen verliefen durchweg lebhaft. Mir schienen diejenigen Diskussionen am fruchtbarsten, die zwar ohne greifbare Ergebnisse abschlossen, dafür aber einen lebhaften, ungestörten Streit der Meinungen entfesselten. Eine Diskussion, wie die über Demokratie, in der Radbruch in überlegener Weise alle Gegner breitschlug, gab dem Hörer wenig, selbst wenn er sachlich auf dem Standpunkt Radbruchs stand. Monologe sind langweilig.

Darf ich Ihnen, hochverehrter Herr Professor, herzlich für die fruchtbaren vier Davoser Wochen danken, und darf ich Ihnen für den Fall, daß die Unabänderlichkeit des niedrigen Stundenplans mir zu meinem großen Bedauern den Besuch Ihres Seminars im kommenden Semester unmöglich macht, hier zugleich meinen herzlichen Dank aussprechen für alles, was ich bei Ihnen lernen durfte. Es ist dies nicht wenig und ich möchte es nicht missen.

Mit den besten Grüßen
Ihr ergeener dankbarer Hellmuth Kirbach.
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