Brief von Heinrich Herrmann an Paul Tillich vom 4. März 1928

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Dresden
Bernhardstr. 9I
am 4. März 1928

Sehr verehrter Herr Professor D. Tillich!

Sie wollen es bitte nicht als Anmaßung erachten, wenn ich Ihnen auf Ihren Vortrag hin diese Zeilen schreibe. Indessen haben Ihre Ausführungen am Freitag mich so tief bewegt, ja im Innersten getroffen und bezwungen, daß ich Ihnen im Geiste aus dankbarem Herzen heraus die Hand drücken möchte. Ich habe den Eindruck, daß da allerdings garnichts Erklügeltes oder Konstruiertes war, wie ein Dresdner Blatt meint bemerken zu müssen, daß hier vielmehr ein ganz Unmittelbares sich erschloß, ja daß Sie sich vielleicht selbst nicht voll bewußt waren, welche im eigentlichen Sinne des Wortes reformatorische Tat Sie vollbrachten, indem Sie eben nicht wieder nur ästhetisch über die Grenzsituation philosophierten, sondern uns alle und sich selbst mit in die Grenzsituation hineinstellten. Wer diese Grenzsituation noch nie in seinem Leben erfahren hat, dem müssen Ihre Ausführungen freilich ein dunkles Rätsel bleiben, der wird Sie auch nie verstehen, wenn Sie das Gesagte in seiner Ausdrucksweise formten. Wie das Wort vom Kreuz den Griechen der urchristlichen Zeit ein Unverständnis und eine Torheit galt, so wird den "Griechen" unserer Tage auch Ihre "Grenzsituation" ein Unverständnis, vielleicht auch ein Ärgernis sein und wohl eben auch bleiben müssen. Vielleicht mag es Ihnen immerhin tröstlich sein, wenn ich Ihnen gestehe,| daß es zwar schon seit einigen Jahren und zwar seit meinem Aufenthalt in Rom das Bestreben der mir obliegenden evangelischen Verkündigung gewesen ist, die Menschenseelen meiner Gemeinde immer wieder in die Grenzsituation hineinzuführen, ihnen auch nur hinter dieser Grenzsituation das beseligende Ja der Gnade Gottes spüren zu lassen. Daß sich diese evangelische Verkündigung aber in ihrer Ausschließlichkeit in mir Durchbruch verschafft hat gerade über Ihren Vortrag. Aber es mag Ihnen vielleicht ebenso tröstlich sein, wenn ich Ihnen den gleichen tiefen Dank von meiner Frau sagen soll. Sie ist von Haus aus Katholikin und hat mir seit Ihrem Vortrag immer wieder beglückt ausgesprochen, daß Sie am Freitag in einer ganz seltenen Klarheit ausgedrückt haben, was sie in gewissen Stunden dumpf geahnt und was sie vom Katholizismus hinweg zur evangelischen Kirche getrieben in der Hoffnung dort eben – evangelische Verkündigung zu finden. Übrigens hat meine Frau Sie das erste Mal gehört, besitzt zudem auch keine akademische Vorbildung – ein Beweis, daß Sie sich wohl doch auch gewöhnlichen Sterblichen verständlich machen können, wofern bei dieser Sterblichen nur eben die Voraussetzung gegeben ist, die Dinge, von welchen Sie sprachen, überhaupt zu verstehen. Jedenfalls Ihnen hochverehrter Herr Professor, unseren herzlichsten Dank für Ihre uns beglückende Gabe! Ich hoffe, mich auch im neuen Semester wieder zu Ihren Hörern zählen zu dürfen und begrüße Sie zugleich im Namen meiner Frau herzlichst

Ihr sehr ergebener
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