Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 13. September 1926

Zum TEI/XML DokumentAls PDF herunterladen

Der editierte Text

|
– – Paris – –
d. 10-13te
Liebste a!

Paris, café de la Paix (Opera – Boulevard des Capucines) Hauptecke von Paris. Nach dem Essen (10 Fr = 1,25 M): Suppe, 2 Eier, Schinken mit Spinat, Vanille-Creme, Eis, ½ Fl. weißen Bordeaux, Trinkgeld) [sic!] ist es nicht ungeheuer?? – – – – –

b tobt durch die Straßen, c schläft, d seit früh im Museum. Als gestern um 11 Abends die Lichter von| Paris auftauchten, sagte ich zu fe: Jetzt komme ich nach Haus nach den Wanderungen in der Provinz – und so ist es auch[.] Die Großstadt ist die heimlichste Heimat. Nur in ihr kann man sich ganz verkriechen und hat doch alles. Am Abend im Cafe Rotonde mit g Wiedersehen gefeiert. Dann der erste Gang ins Louvre, natürlich primitive Italiener: Ein h, bei dem ich immerzu an Dich dachte. Dann i, j, einige mir unbe| kannte k – – dann ein Blick auf die kommenden l auf die ich mich freue. – Am Nachmittag allerhand Besorgungen. Dann Casino de Paris, Revue. Drei Kategorien, die zu beobachten sind: Technik (Tiller-Girls etc) Dieses weitaus das Beste[,] das was uns mitreißt, weil es unsere Leistung ist. Dazu gehört, daß immer mehr als eine tanzt. Das Maschinelle ist dann das Übergreifende, das worin sie eins sind. Zwei können zur Maschine werden, nicht ein Isoliertes. – Das zweite ist das rein| Sexuelle, das, wo der Tanz nur Vorwand ist, den Körper zu zeigen. Das dritte ist das Groteske und Humoristische. Die Verspottung existierender Frauen, in der Revue auch vom Sexuellen her. Was absolut fehlt, ist die geistige Gestaltung. Es fehlt der Gehalt, aus dem positive Form werden kann, nicht bloß Form der Formwidrigkeit, ( [sic!] was das Wesen des Dämonischen ist. Die Mischung von Dämonischem und Entleertem in der Revue wäre ein feines Thema zur Zeit Lage. – Eine andere Beobachtung: Das Thema der Umwandlung: In Blumen| in Tiere, Steine, also Untermenschliches und in Engel, Dämonen, Götter, also Übermenschliches: Die Faszination dieser Umwandlungen ist immer wieder groß, bedeutet also im Grunde Verzicht auf die geistige Persönlichkeit, deren Wesen die geistige Einheit ist. Auch die Umwandlung gehört der dämonischen Sphäre an. – Sonnabend Abend in eine kleinere Revue (moulin bleue). Hier das Erotische stärker, dazu einige neue Momente, die ich begriff: das Akrobatische, die Körperkraft, natürlich wie alles in der Revue mit dem Erotischen verbunden[.] Auch das ein Zurückweichen ins Unterpersönliche. – Ferner nun: Der erotische Esprit. Der Geist als Geist, aber im Dienst dieses| vielleicht die beste Form, aber ganz abhängig von den Positivitäten, die sie verspottet. Und da diese keine ernsthafte Existenz mehr haben ( [sic!] z.B. die ständigen Nachäffungen der Messe, des Gebetes, die Verspottung der Wunder in der Revue, so ist natürlich auch der Spott ziemlich spielerisch, nicht blutig oder überlegen – das Sentimentale fand sogar hier wenig Anklang. – Gestern Abend mit nm in der Comédie Francaise ein kleines Stück von o und Tartuffe von p. Das glänzendste Spiel, was ich je gesehen habe. Absolut vollkommen, unerträglich und beseligend vollkommen. Ganz unmodern und absolut hinreißend. Der Franzose ist| groß in allem, worin er die große Tradition hat. Und das Werkzeug: Seine Sprache[.] Ich habe in Frankreich gelernt, was Sprache ist, als Werkzeug, als geistige Formkraft. Wir stammeln Urlaute, die Engländer haben ein ökonomisches Verständigungsmittel, die Franzosen sprechen, wie früher die Griechen (Auch mit aller Rhetorik der Griechen) – – Vor- und Nachmittag im Louvre. Ein neues Erlebnis: q. Zum ersten Mal ein berauschtes Ja zu der klassischen Vollendung. Fast alles von ihm ist hier, am schönsten die h. Anna selbstdritt. Die Gioconda1 siegt über alle Reproduktion| was viel heißen will. {¿¿¿} der hermaphroditische Jüngling. In allem das Lächeln der in sich geschlossenen Vollkommenheit, deren Dämonie jede Aggressivität verloren hat. Für die Möglichkeit, täglich s zu sehen, gebe ich jetzt den tollsten Sturm in der Bretagne –

Heut Dein Brief mit den Einkaufsachen.2 Ich werde tun was möglich ist. t wird besser helfen, als u. – Der Magen ist seit Paris gut. – Gestern Nachmittag bei einem franz. Maler, am Abend mit Maler v (Mann der rothaarigen Frau in w) im Cafe Dome. – –

Für heute Schluß, Gruß von x und alles Süße für Dich.
Dein
y.

Fußnoten, Anmerkungen

1Gemeint ist die Mona Lisa (r).
2Dieser Brief liegt nicht vor.

Register

aTillich, Hannah
bSpiegelberg, Friedrich
cKallen, Elisabeth W.
dvon Sydow, Eckart
eSpiegelberg, Friedrich
fSpiegelberg, Rosalie
gvon Sydow, Eckart
hCimabue
iMartini, Simone
jGiotto di Bondone
kBotticelli, Sandro
lLeonardo da Vinci
mHamburger, Hans
nJessen, Malla
oAmantine Aurore Lucile Dupin de Francueil (pseud. George Sand)
pMolière
qLeonardo da Vinci
rLeonardo da Vinci
sLeonardo da Vinci
tJessen, Malla
uKallen, Elisabeth W.
vMaler Engers
wHiddensee
xKallen, Elisabeth W.
yTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976, bMS 721/2(23)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Paris - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 29. September 1926
nächster Brief in der Korrespondenz
Postkarte von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 2. Oktober 1926 [PS]

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 13. September 1926, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00916.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

{{Internetquelle |url=https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00916.html |titel=Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 13. September 1926 |werk=Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition. |hrsg=Christian Danz, Friedrich Wilhelm Graf |sprache=de | datum=13.09.1926 |abruf=???? }}
L00916.pdf