Der editierte Text

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Liebe a! Liebste!!1

Wir sitzen im Bummelzug auf der Fahrt nach der Atlantischen Küste. Nebenan eine mit wildem französischen Temperament durchgeführte Debatte zwischen einem Kommunisten und einigen Frauen. Man fühlt doch viel viel mehr als in Italien vor 2 Jahren die Feindseligkeit, die sich zwar augenblicklich mehr gegen Engländer und Amerikaner richtet, aber doch jeden Tag auf uns übergehen kann. Das ergibt eine ständige Beunruhigung, die wir alle drei fühlen. (Eben kommt der Kommunist herüber und hält eine Ansprache vor uns über das schlechte Benehmen der Bourgeois) Dazu die ständige Hetze in den Zeitungen. Es ist jedenfalls nicht gemütlich.

Das Meer und die Landschaft von b waren herrlich. Ebenso die täglichen Bäder. Überall sind| Klippen und alte Festungswerke darauf. Bei der Ebbe Flut sind sie ganz klein, zum Teil verschwunden. Bei der Flut Ebbe sind sie groß[,] zackig und brechen die Wellen. Die Flut ist dort riesenhaft, etwa drei Mal so hoch wie in c. Die Ebbe dann entsprechend tief. Das Meer ist ganz weit weg und kommt dann zur Flut mit Minutengeschwindigkeit heran. Sehr schön war es bei {¿¿¿}, wo es an der Mauer der Promenade hoch brach und bis zu den Häusern herüberspritzte – –

Die Langweiligkeit der Engländerinnen ist unermeßlich, unfaßlich; mir gegenüber am Nebentisch saß eine sehr schöne; aber ich konte [sic!] zuletzt kaum mehr hinsehen, so gelangweilt sah sie aus. Dagegen saßen| neben uns drei nette Züricher Jüdinnen, die wir bald kennen lernten und mit denen wir ein paar Mal spazieren gingen. d hatte mit der einen sogar einen etwas intensiven Flirt. Ich bin wieder ganz dem Meer verfallen. – Das Hotelleben ist doch sehr unerfreulich, steif, teuer, immer etwas giftig. Die Diners und Soupers waren gut, aber mir nicht sehr zuträglich. Das beste war die tägliche Flasche weißer Bordeaux für 50 FF. (In Deutschland 6 M)

Sehr wichtig war die gestrige Fahrt nach e. Eine riesige Bucht des Meeres, sehr flach, zur Ebbezeit trocken. Darin ein Granitfelsen, der eine kleine Stadt und oben eine Abbaye und Kirche trägt. Dieser erhebt sich steil aus der Ebene zu großer Höhe (bei Flut aus dem Wasser) Unten| sind wundervolle Umwallungen, die zugleich gegen die Hochflut schützen, wie in f, wo die gleiche Mauer gegen den Feind und das Meer schützt. – Der Ort hat nur eine, ganz enge, Straße, die von lauter Restaurants besetzt ist, die mit Hilfe herrlicher Hummer und Langusten die Fremden anlocken. Auf der Umfassungsmauer sind Kaffeeterrassen mit fabelhaftem Blick auf die Bucht, die etwa wie das Watt bei Ebbe aussah. Dann die Besichtigung der Abtei, die leider durch Führer und Menschenmassen sehr gestört war. Ein ganz herrliches romanisches Kirchenschiff. Dann viele sehr gute romanisch-gothische Räume. Ich schicke ein Postkarten-Album. – – – Hin- und Rückfahrt mit Auto-Car – je 2 Stunden. Auf der Rückfahrt erlebten wir in einem Ort eine| richtige Verspottung der Engländer durch Sonntag-Nachmittag-Publikum. Dann noch vor dem Diner (7 ½ Abends) bei strömendem Regen in ein herrliches Wellenbad. Die Zellen sind im Keller des Hotels.

Die innere Unruhe über die Existenz hier hemmt bis jetzt die Produktion erheblich. Aber schon nach drei Tagen am Meer fühlte ich eine Umwandlung. Ich will nun auf alle Fälle den August an der Sonne durchhalten, und eher g abkürzen. Wie lange die anderen bleiben, hängt von den Resultaten ihrer Pumpversuche ab.

Ich habe von der Reise nicht halb so viel, wie wenn Du dabei wärst. Ich merke jetzt, daß wir seit Italien eine Reise-Einheit geworden sind... und überhaupt. Seit ich hier ein paar ganz kleine Kinder gesehen habe, habe ich| beschlossen, nur noch mit Euch beiden an die See und nur noch mit Dir in die Welt zu fahren.

Gedanklich beschäftigen mich fort während die Unterschiede der Völker. Durch den Eindruck der metaphysischen Verschiedenheit wird alles eigne Dasein immer relativisiert, in Frage gestellt. Die Möglichkeit der Enge hört auf, aber auch die Sicherheit der eignen Produktion. Das Reisen ist zu allen Zeiten eine Gefahr für die Dogmatiker gewesen. Es bildet historisch, während die konzentrierte Enge die eigne Schöpfung begünstigt. – – – –

Was tust Du? Wie gehts h? Wo ist i, wo j? Sind keine Briefe gekommen?? Schreibe viel, damit einiges ankommt.

Ich liebe und küsse Dich Tausend mal
Dein k

Fußnoten, Anmerkungen

1Der Brief ist undatiert, aber sein Inhalt erlaubt die Eingrenzung auf den Zeitraum zwischen dem 7. und 15. August 1926.

Register

aTillich, Hannah
bSaint Malo, Ille-et-Vilaine
cSylt
dvon Sydow, Eckart
eLe Mont-Saint-Michel
fSaint Malo, Ille-et-Vilaine
gParis
hFarris, Erdmuthe
iGoesch, Heinrich
jLisel
kTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976., bMS 721/2(23)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Quiberon - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Postkarte von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 3. August 1926
nächster Brief in der Korrespondenz
Postkarte von Paul Tillich an Hannah Tillich zwischen 16. August 1926 und 02. September 1926

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom August 1926, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00884.html, Zugriff am ????.

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