Brief von Arnold Wolfers an Paul Tillich vom 10. Januar 1924

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München, den 10.1.1924

Lieber Paul!

Ich halte es nicht für einen Verfall an die Begriffsautononomie, wenn Du versuchst in philosophisch-begrifflicher Fassung Deine Lehre auszubilden. Aber allerdings werden die Begriffe, um die es Dir geht, "die absolute Klarheit und Schärfe" in dem Sinn verlieren müssen, als sie nie ein rationales Objekt haben. Es liegt in der Natur des Objektes Deiner Lehre, dass eine eigentliche Systematik, die immer selbst Rationalisierung bedeutet, unmöglich und unadäquat ist. Ich glaube, dass darüber Einverständnis besteht, Du musst also gleichsam Deine eigenen Begriffe dauernd aufheben, und Dich dagegen wehren, wenn andere sie wie klare Scheidemünzen glauben gebrauchen zu können. Wir haben es nicht mehr mit rechnerischen Teilgrössen zu tun, die man zu Weltbildern zusammensetzen kann. Der Begriff kann nur im ganzen Zusammenhang als Andeutung auf ein Gemeintes sinnvoll verstanden werden.

Und dann noch dies zu Deinen Bemerkungen auf Seite 2: Du sprichst von den "Integrationen" Deiner Abstraktheit.1] Ich kann das, was wir Integralität nennen, hier nicht darstellen, es ist aber notwendig zu sagen, dass es nichts mit der von Dir gemeinten Integration zu tun hat. Denn diese erweist sich gerade hier wieder als blosse Synthese vorher gewaltsam getrennter Elemente und zwar als Synthese wie jene zwischen unbedingter Form und unbedingtem Gehalt, von der ich sagte, dass sie mir unmöglich und nur logisch begründet erscheine. Du suchst die Synthese, sagst Du, zwischen Deiner Abstraktheit (will heissen der blossen Form) mit dem Lebendigen (will heissen dem Gehalt). Darin drückt sich Deine Grundauffassung wiederum aus. Solange die "Abstraktheit" an sich anerkannt und bewahrt wird, solange führt kein Weg zum Wesen dessen, was Du das Lebendige nennst, weil dieses eben nicht der Gehalt, sondern der formenschöpferische, formentragende und formoffenbarende Gehalt, die Deiner Erkenntnis sich allein darbietende Offenbarung der Wirklichkeit ist. Es scheint mir eben abwegig zu sein, wenn Du von der Vorstellung des Einströmens des Gehaltes in die Form ausgehst| In der Natur, der Freundschaft, der Musik offenbart sich uns das Wesen in seiner Wesensformen und natürlich in seinen Verunwesungen. In diesen Wirklichkeiten selbst sind die richtigen Formen allein zu finden und nicht in einer davon losgelösten, im Geiste aufbewahrten formdiktierenden Vernunft. Die Abstraktion kann nicht bluthaft gemacht werden. Aus der bluthaft erschauten und erlebten Wirklichkeit kann sekundär abstrahiert und das Rationale für sich gesetzt werden.

Ich gebe Die Deine Polarität "Form-Gehalt" immer wieder zu bedenken. Die Antike hat sich in dieser Antithese herumgeschlagen, Kant hat daran zeitlebens zu tun gehabt. Solltest Du da Halt machen müssen.

Es bedeutet für mich sehr viel, dass Du eine so einschneidende und in ihren Konsequenzen noch nicht übersehbare Korrektur vornimmst (S.7) Es bleibt zu untersuchen, was unter der absoluten Formforderung im Gegensatz zur rationalen Form zu verstehen ist, etwa im Aesthetischen oder in der Erotik oder sonstwo. Es wäre sicher klärend für uns beide, wenn Du da ansetzend, versuchtest, diese "absolute Formforderung", die offenbar die unbedingte Form ist, im Gegensatz zur rationalen Form verständlich zu machen. Du sagst, sie verwirkliche sich konkret in der Theonomie: entsprechen der romanische Dom, die Feudalität, die mittelalterliche Stadt und Gilde die Bauerntracht, die Katholizität, das Mönchstum, Christus selbst oder Franz von Assisi einer "absoluten Formforderung" und warum? Ist eine demütige oder erhabene Haltung als Synthese von unbedingtem Gehalt und unbedingter Form oder absoluter Formforderung zu verstehen? Ist der Heilige eine Synthese von Gehalt und ethischer Form? der Weise eine Synthese von Abstraktheit und bluthaftem Gehalt, die edle oder hingebende Liebe eine Synthese von was? Ist Mozarts Musik, wo sie ganz unaussprechlich gross ist, eine Synthese etwa der klassisch rhytmisch harmonischen Form und einem Gehalt? Ist nicht ihr Urteil gesprochen, wo überhaupt,- und das kommt bei Mozart wie bei Goethe vor,- die Form als solche eine abstrahierte Form des Metrums oder Taktes zum Bewusstsein kommt?

Ich will an mich halten. Dein Brief hat so viele Fragen aufgeworfen, dass es gut sein wird, wenn immer nur an die eine oder andere an| geknüpft wird. Im Grunde führen alle zu den gleichen Grundfragen, denen wir, so glaube ich, näher kommen werden.

Herzlich Dich und Hannah grüssend auch von Doris
Dein Arnold
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    • Tillich, Paul, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden. Ein Entwurf von Paul Tillich, Göttingen 1923.