Der editierte Text

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a, d. 28. Juli 1919
Mein lieber b!

So - da staunst Du - Gell? Neulich, als Vati sehr auf Unabhängige und Spartakusse schimpfte, sagte ich, so aufs Geratewohl - „Aber es sind doch auch ganz feine Leutchen dabei, z.B. c - “? blickte ihn dabei von der Seite an und erwartete doch halb ein erstauntes Augenbrauenziehen. Einer von unserer Zunft bei dieser Räuberbande - ? Und siehe, Vati war kein bisschen erstaunt, sondern schimpfte bar weiter - auf Dich, und ich lachte. d, wie kannst Du! Zur Strafe musst Du jetzt diesen Brief lesen! Zu erst mal: ist es nicht eine prachtvolle Zeit. Unsere Zeit. Sogar in diesem Gottverlassenen Nest ist sie bunt und lebendig und lässt den armen braven Bürger nicht seines seelischen Embonpoint froh werden. Ich sage Dir - wir sind so froh. Es ist, als hätte man neue Augen bekommen, oder vielmehr als dürfte man jetzt erst Augen haben. Es ist lächerlich, wie der Pulsschlag dieser Zeit bis in's kleinste Geschehen geht - ein Auto, eine Bahnhofshalle, ein Mensch oder ein Streifen Sonne - wie schön ist das! Mann reisst das Erlebnis heraus aus dem Chaos und unmittelbar hoch zu sich, frei von seiner Kausalität
| und frei von dieser blau grün rot gedipfelten Impression von Ursache und Wirkung. Lieber e, es ist vielleicht unsinnig, so zu schreiben und Du verstehst mich nicht. Dir ist diese Zeit vielleicht {schwerer}, denn Du als Theologe musst ja fühlen, dass, wenn die Kirche jetzt nicht stark ist und unsäglich wahrhaftig, dann hat sie ihr Urteil gefällt. Ich weiss nichts von Dir, als was ich ahne - habe nur das Bedürfnis, Dir zuzurufen: wir tun auch mit, jeder an seinem Platz - wir alle Jungen, die wir so lebendig jung sind, halten unsere Hände jetzt ausgestreckt und bitten das Leben: Nimm und Gib.

Wir arbeiten sehr und haben das Gefühl: Nie genug. Wenn Du wüsstest, f, was Kunst ist, was Kunst jetzt ist, wenn Du das so erleben könntest, wie ich jetzt - dann würdest Du auch diesen Brief verstehen - und warum er geschrieben wurde.

Mein Mann grüsst Dich. Sage g einen Gruss, wenn Du willst.

Mit viel Herzlichkeit
Deine „Base h

Fußnoten, Anmerkungen

Register

aDarmstadt
bTillich, Paul
cTillich, Paul
dTillich, Paul
eTillich, Paul
fTillich, Paul
gTillich, Margarete
hCollmann, Ena

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/131
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Darmstadt - unbekannt

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Ena Collmann an Paul Tillich vom 28. Juli 1919, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00639.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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L00639.pdf