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D. 10. Juli 1918

Liebe Maria!

Dein Brief ist mir ein weiterer der vielen Beweise dafür, daß Ihr Leute in der Heimat auch nicht einen Schimmer von Verständnis für uns hier draußen habt, nicht einmal wenn Ihr der Front etwas näher gekommen seid; eigentlich ist es ein unglaublicher Zustand, daß wir, die wir schon all das Grauenvolle hier draußen durchmachen, nun uns auch noch in unserer Existenz gegen Euch verteidigen müssen. So gegen die einen, daß uns eine gewisse Schwere des inneren Lebens anhaftet, gegen die anderen, daß unser Geist unbeweglich geworden ist, gegen die Dritten, daß man zu religiös, und gegen Dich, daß man genußsüchtig geworden ist. Diese Musterkarte, die auf Tatsachen beruht, wird Dir zu denken geben! Freilich bin ich genußsüchtig, wenn ich auf Urlaub komme: Jedem Augenblick möchte ich die letzte Süße aussaugen; das sage ich und bekenne ich offen, und mit mir alle, | die hier draußen sind und ehrlich gegen sich und andere und noch einen Tropfen Blut haben. Und dieser Tropfen kann in Wallung kommen, wenn Ihr daheim uns Vorwürfe macht, die Ihr Ruhe, Sicherheit, Leben, Arbeit, Menschen, Haus, Beruf und hin- und wieder Vergnügen habt. Und uns gönnt Ihr nicht die Minuten, die das Schicksal uns gönnt? Was wir sonst innerlich sind, daß uns eine Welt zerbrochen ist, daß wir uns nicht mehr als Lebende im Vollsinne fühlen, daß wir alles zerdrücken müssen, was ein Menschenleben reich macht, das wißt Ihr nicht, wollt Ihr nicht sehen, könnt Ihr nicht ertragen, und haltet Euch zur Erhaltung Eures Selbstbewußtseins an die paar Gramm Fleisch, die Ihr weniger kriegt, Ihr allesamt! – – Und nun der andere Vorwurf: Vielleicht denken wir hier geringer von dem Wert eines Menschenlebens, wo die Besten täglich zertreten werden; aber Menschen als "Kino", das ist unwürdig, und gerade unwürdig für den, der Menschen | hat sterben sehen. – Wenn Du aber Deine merkwürdigen Schlüsse aus der Tatsache gezogen hast, daß ich in den 5 Urlaubstagen, die zu dienstlichen Zwecken mir gegeben waren, keine Zusammenkunft mit Dir suchte, so war dies darin begründet, daß ich nichts davon erwartete für unser Verhältnis, weil mich die Hetze solcher Tage in einen vollkommenen Betäubungszustand versetzt. – und dies besonders, nachdem Du mir Monate lang keine Nachricht von Dir hattest zukommen lassen. Daraus schloß ich auf | eine dauernde, nur durch meine Übersiedlung nach Berlin zu überwindende Eingeschnapptheit bei Dir, was Du mir nicht verdenken kannst. Dies Angriff und Verteidigung! – Und nun meine verehrte alte Freundin, wollen wir wieder Frieden schließen und ihn, wenn meine Hoffnungen sich verwirklichen sollten, in Berlin aufs Kräftigste betätigen. Einverstanden?

Dein .
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    Personen:

    • Rhine, Maria (Studentin Tillichs; Studium: Literatur, Philosophie, Theologie)
    • Tillich, Paul (Theologe; Religionsphilosoph; Pfarrer;)

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