Brief von Paul Tillich an Erich Pfeiffer vom 19. Oktober 1916

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Der editierte Text

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D. 19. Okt. 1916.

Lieber Pfeiffer (Details anzeigen)!

Nun will ich Ihnen genau nach Zeit, Ort und Eindrücken alles berichten, was ich bei dem Filial-Unternehmen unserer „Firma“ in Lille (Details anzeigen) erlebt habe.

1. Also morgens, etwa eine Stunde nach Ihrer Abfahrt stand ich in Valenciennes (Details anzeigen) auf, frühstückte in dem Offiziersrestaurant und besuchte die Kirchen von Valenciennes (Details anzeigen), das Museum, in dem u. a. ein Rubens (Details anzeigen) ist, war leider geschlossen. Um 11 fuhr ich weiter nach Lille (Details anzeigen), kam dort um 1 an, ging durch die verwüstete Bahnhofsstraße zur Kommandantur, erhielt ein Quartierbillet (gegen Ausweis) im Hotel [sic!] de l'Europe rue bassé, 3 Min von der grande place, also sehr günstig. Ehe ich hinging, aß ich Mittag in der Offiziersmesse, infolge unfreundlicher Bedienung und teurem Wein nicht zu empfehlen. Als ich dann ins Hotel ging, war der ganze Saal voll von dinierenden Zivilisten, höchst erfreuliche Damen, u. s. w., so daß ich dort noch schnell Kaffee trank und den Beschluß faßte, dort immer zu essen. Um 3 fuhr ich mit der Elektrischen „G“ vom Bahnhof ab nach Five (Details anzeigen) [sic!] , wo die Rue Pierre le Grand winkte mit ihren Nummern, 105 (Ther (Details anzeigen)...), 111 (Jea (Details anzeigen)...), 113 (Leo (Details anzeigen)...);1 es ist die Hauptstraße der Vorstadt, niedrige, kleine Häuser, kleine Läden, aber die besten in der Gegend. Bei Th (Details anzeigen). fand ich nur eine ältere Schwester, der ich unsere Begegnung mitteilte, und von der ich gleich erfuhr, daß alle 6 zurückwaren. Aber Th (Details anzeigen). war auf Besuchen, ich meldete mich für Abends an. Bei Jea (Details anzeigen). öffnete die Schwester Berthe (Details anzeigen), ca. 15 Jahre, die ich sofort als solche erkannte. Jea (Details anzeigen). war in weißem Arbeitskittel.. wie einst im Mai.. sie zog sich schnell um und wir tranken zusammen Kaffee; nach einiger Zeit erschien Georg (Details anzeigen).. und sehr überrascht; nur Jea (Details anzeigen)... hatte noch auf unser Wiederkommen gehofft; die andern hatten gezweifelt; alle außer Th (Details anzeigen). hatten es ihren Eltern erzählt. Die Unterlassung war ein Fehler, der sich rächte. Die andern machten Andeutungen über Enge und {¿¿¿} von Mutter und Schwester von Th (Details anzeigen) und daß sie es darum nicht gewagt hätte davon zu reden. Ich begann, mich zu sorgen, und gegen 7 war ich wieder| in Lille (Details anzeigen), nachdem ich mich mit Jea (Details anzeigen). auf morgen um 2 verabredet hatte, und daß ich dann einen Brief von ihr an Sie mitnehmen würde. Er liegt bei, natürlich von mir nicht gelesen; die Blume stammt aus Blanchefosse (Details anzeigen)...

2. Lille (Details anzeigen) von 6‒9! Großstadt, die Hauptstraßen voll, die Bummelstraße, rue nationale, die Kaffees an der grande place überfüllt. Civilisten, Soldaten, Offiziere, alles durcheinander. Der Krieg scheint vergessen, trotzdem man jeden Schuß hört; das Licht der Läden macht die Blitze der Abschüsse unsichtbar; und – die Gesichter sichtbar, bis 9 Uhr! Damen aller Arten, vornehme Käuferinnen, üble, aber gut geputzte Kokottenin großer Zahl, „Hutlose“2 in der Minderheit, französische Jünglinge, Laden-Verkäuferinnen, verhältnismäßig wenig Offiziere, recht wenig Soldaten. Die Elektrischen alle überfüllt, mehr Zivil als Soldaten. Ich gehe auf und ab, gehe in eins der Markt-Kaffees und fahre dann wieder nach Five [sic!] (Details anzeigen).

3. Die ganze Familie ist stehend im Laden; die Mutter, elend, tut, als wüßte sie nichts; Therese (Details anzeigen) steht da, sieht traurig zu Boden, die dicke {Lore} (Details anzeigen) grinst; die Mutter sagt, sie müßten jetzt soupieren, und dann, als ich bleiben will, sie müßten ins Bett. Ich will morgen wiederkommen, aber schnell sagt Therese (Details anzeigen), daß sie morgen Besuche machen müßte... da habe ich genug. Sie tut mir Leid; aber ich verlasse mit eleganter Verbeugung das Haus... Schluß!

4. Noch vor 9 bin ich in Lille (Details anzeigen); zwar gut angezogen aber üble Weiber reden mich an; ein Stück gehe ich mit, bis zur Wohnung, dann habe ich genug... gemein! ‒ Bei gutem haute Sauterne und einigen andern Genüssen esse ich einsam in meinem Hotel Abendbrot und schlafe dann, in der Hoffnung, daß es den Engländern nicht wieder, wie vor 8 Tagen einfallen möge, auf die Umgebung des Hotels zu schießen... was auch nicht geschah.

5. Besichtigung der Stadt; erst drei Kirchen. In St. Catharine ein| guter echter Rubens (Details anzeigen) neben zwei Italienern... und das Museum; es sind einige Granaten hereingegangen; einige Bilder sind kaput [sic!] , einige verletzt. Alles Bedeutende ist im Keller; aber was man sehen kann, ist immer noch ganz gut; Besuch unbedingt zu empfehlen; vorzügliche Plastiken! Auf der Straße manche gute Erscheinung. Diner im Hotel. Chablis!3

6. Fahrt zu Jeanne (Details anzeigen). Bericht über Therese (Details anzeigen). Sie ist nicht überrascht, hat es sich gedacht. Th (Details anzeigen). war mit keiner der 6 befreundet, und sprach, wie Jeanne (Details anzeigen) mir klagte, in ihrer Abwesenheit schlecht von ihr... was ich nur bedingt glaube; es liegt nach ihrer Meinung ein gewisser Parvenu-Hochmut vor. Ich halte Th (Details anzeigen). immer noch für unschuldig... aber der Stern ist jetzt Jeanne (Details anzeigen). Nach einiger Zeit kommt Leona (Details anzeigen), nur für ein paar Minuten; denn sie hat viel zu arbeiten in Lille (Details anzeigen). Sie ist frisch und vergnügt. Ich trinke mit Jeanne (Details anzeigen) und Berthe (Details anzeigen) Kaffee, habe viel Kuchen mitgebracht; dann ein Besuch nebenan bei Georginas (Details anzeigen) Mutter. Der übliche Kognak. Die Mutter ist sehr freundlich. Dann nehme ich Abschied – auf Wiedersehn!

7. Bummel und Einkäufe in Lille (Details anzeigen); wieder Hochbetrieb. Ich besuche die Freundin der kleinen Aurelia (Details anzeigen) aus Valenciennes (Details anzeigen); sie war mir geschildert als hochelegant, kam an wie eine ältere Mamsell, aber ganz freundlich; alles nach 5 Minuten erledigt, in der rue des arts.

8. Das Letzte und Beste. Irgendwo vor einem Geschäft steht eine junge Frau mit einem Witwenschleier, kokett, hübsch. Bald unterhalten wir uns; sie geht zurück und führt mich rue des arts, zwei Häuser weiter; eine dicke alte Wirtin erscheint; es ist ein kleines Hotel; Rahel (Details anzeigen), so heißt die kleine Frau, teilt mir mit, daß sie keine Frau, sondern eine Waise ist, 18 Jahre, und daß sie noch vor 9 in einer Vorstadt sein muß. Schließlich bleibt sie; ich komme in einer Stunde wieder und wir machen ein entzückendes Plauderstündchen mit Kaffee und Kognac bis in die Nacht um 1. Sie ist Tänzerin und Choristin am Deutschen Theater in Lille (Details anzeigen), hat bis jetzt nur einen Freund gehabt und ist auf der Suche nach einem neuen. Sie ist klein| rundlich im Gesicht, entzückende Gestalt, wasserblaue Augen, unbedingt deutsch gesinnt. Sie tut mir Leid; denn ich fürchte, daß sie langsam herabgleiten wird. Ungeheuer imponierte ihr meine unbedingte Treue. Auch von Ihnen erzählte ich; und sie verlangte, daß ich durch Sie ihr Nachricht zukommen lassen soll. Schreiben Sie bitte gleich, wenn Sie Aussicht haben nach Lille (Details anzeigen) zu kommen, dann schicke ich Ihnen einen Brief und die Adresse, aber nur für Sie!

9. Unendliche, langweilige Rückfahrt nach Charleville (Details anzeigen)-Amagne (Details anzeigen)- Vouziers (Details anzeigen)... nächtlicher Rückmarsch von Olizy (Details anzeigen) nach Vaux (Details anzeigen), wo wir in gut gebauten Baracken am Nordabhang wohnen.

Das war die Fahrt.

Exzellenz (Details anzeigen) ist grimmiger Stimmung, fährt morgen auf 14 Tage in Urlaub; Kapell (Details anzeigen) war 3 Tage in Hirson (Details anzeigen), von Exzellenz (Details anzeigen) besucht. Hier ist alles ganz ruhig; wir fürchten aber, nicht lange zu bleiben --

Ich bitte bald um Antwort! „Beurteilung der Lage der Firma“ u. s. w. Poemata später!

Viele herzliche Grüße!

Ihr

P. Tillich (Details anzeigen)!


Fußnoten, Anmerkungen

1In dem Brief vom 23. Mai 1916 (Details anzeigen) berichtet Tillich (Details anzeigen) an Toni Winkler (Details anzeigen), dass er vorgehabt habe, „ein paar Tage nach Belgien zu fahren; mehrere Herren von der Division waren auch da und sehr entzückt. Aber es geht jetzt nicht.“ Unter den Herren war offensichtlich auch Erich Pfeiffer (Details anzeigen), der dort Kontakt zu einigen jungen Damen geknüpft hatte.
2Kokotten und „Hutlose“ waren Frauen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die durch ihr unkonventionelles Verhalten gesellschaftliche Normen infrage stellten: Während Kokotten einen unabhängigen Lebensstil durch die finanzielle Zuwendung ihrer Verehrer führten, verzichteten „Hutlose“ bewusst auf das damals gebotene Huttragen und galten dadurch als Ausdruck von Emanzipation und Nonkonformismus.
3Ausruf, der oft amüsiert oder ironisch auf überraschendes, extravagantes Verhalten reagiert; ursprünglich vom französischen Weißwein „Chablis“ abgeleitet.

Register

aPfeiffer, Erich
bLille
cValenciennes
dValenciennes
eRubens, Peter Paul
fLille
gFives
h???, Therese
i???, Jeanne
j???, Leona
kBrief von Paul Tillich an Toni Winkler vom 23. Mai 1916
lTillich, Paul
mWinkler, Toni
nPfeiffer, Erich
o???, Therese
p???, Therese
q???, Jeanne
r???, Berthe
s???, Jeanne
t???, Georgina
u???, Jeanne
v???, Therese
w???, Therese
xLille
y???, Jeanne
zBlanchefosse-et-Bay
aaLille
abFives
ac???, Therese
ad???, Lore
ae???, Therese
afLille
agRubens, Peter Paul
ah???, Jeanne
ai???, Therese
aj???, Therese
ak???, Jeanne
al???, Therese
am???, Jeanne
an???, Leona
aoLille
ap???, Jeanne
aq???, Berthe
ar???, Georgina
asLille
at???, Aurelia
auValenciennes
avMartel, Rachel
awLille
axLille
ayCharleville-Mézières
azAmagne
baVouziers
bbOlizy-Primat
bcVaux-lès-Mouron
bdBonin, Henning von
beKapell, ???
bfHirson
bgBonin, Henning von
bhTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library , Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/174 (39)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Erich Pfeiffer kurz nach dem 29. Oktober 1916

Entitäten

Personen

Orte

Briefe

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Erich Pfeiffer vom 19. Oktober 1916, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00514.html, Zugriff am ????.

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