Der editierte Text

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D. 1. Mai 1916.
Lieber a!

Herzlichen Dank für die Zusendung Deines Operntextes und den Ostergruß!1 Ich habe Dein Stück mehrfach und mit großer Freude und Spannung gelesen; die Verse sind vorzüglich, an b anklingend, prägnant und klingend, allerdings unberührt von der modernen lyrischen Entwicklung der letzten Zeit; falls Du wieder ähnliches schreibst, müßtest Du mal eine Auswahl moderner Lyrik (bei Reklam zu haben) durchstudieren. Am besten haben mir die lyrischen Scenen gefallen, das Nachtlied, die Bleicherinnen, das Berglied, der Morgen u. s. w. Zweifellos liegt darin der Wert der Dichtung. Die Handlung ist spannend. Ich habe das beim jedesmaligen Durchlesen empfunden, und damit hast Du ja vielen Modernen Erhebliches voraus. Aber ihre katastrophalen Ereignisse sind mir zu sehr äußere Vorgänge, die als solche den Stempel einer gewissen Zufälligkeit tragen. Sowohl {Maras} wie {Lichtkrauts}2 Sturz hätten auch nicht vorkommen können, resp. einen andern Ausgang nehmen können. Vielleicht ist das zu streng nach der älteren Dramaturgie gedacht, aber sie entspricht meiner persönlichen Empfindung. Im Lyrischen, Charakterisierenden ist jede Zufälligkeit nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht, im Dramatischen| scheint mir die Notwendigkeit herrschen zu müssen; ich meine beides innerhalb eines Dramas. – Und dann noch etwas, was ja wohl bei uns Reflexionsmenschen unvermeidlich ist, das Verhältnis von Idee und Handlung. Der Ton wird bei uns immer auf der Idee liegen; wir haben im letzten Grunde nicht die Kraft der Unmittelbarkeit, bei uns wird die Handlung um der Idee willen da sein; das tut aber dem Künstlerischen Abbruch. Am ehesten gelingt uns noch das Unmittelbare im Lyrischen; so kommt es, dass Deine Musik eminent lyrisch ist, und wie Du ja weißt, mir gerade darin so zusagend. Die "Woge" ist im Grunde auch nur eine Zusammenstellung von lyrischen Scenen, die Idee ist so stark im Hintergrunde gehalten, bricht nur in dem letzten Erlösungsschrei durch, daß das Ganze einen absolut künstlerischen Eindruck hinterläßt. Hier scheint mir Deine Kraft zu liegen: Lyrik mit einer den kaum erkennbaren Hintergrund bildenden Idee. – Nach dem was Du mir sagtest ist ja das Stück auch ähnlich beurteilt worden; ich freue mich, auf diese Weise geistig an dem schönen Abend teilgenommen zu haben. Im übrigen [sic!] glaube ich auch, daß Du vieles daraus musikalisch verwerten kannst. – Hier ist herrliches Wetter und viel Arbeit und wenig Krieg. Gestern war ich mit dem ganzen Brigadestab zum Abendmahl; es war sehr feierlich.

In Liebe und Treue
Dein d.

Fußnoten, Anmerkungen

1Liegt nicht vor.

Register

aTillich, Johannes Oskar
bWagner, Richard
cTillich, Johannes Oskar
dTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambdridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/193(14)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
ohne Ort - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Postkarte von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 31. März 1916
nächster Brief in der Korrespondenz
Postkarte von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 29. Mai 1916

Entitäten

Personen

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 1. Mai 1916, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00478.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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L00478.pdf