Brief von Paul Tillich an Greti Tillich, Johannes Tillich und Marie Tillich vom November 1915

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Der editierte Text

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Tagelang wurde von nichts anderem gesprochen, als von dem "Angriff".1 Die Gegensätze der oberen Instanzen wurden bekannt, die Truppe und ihre unmittelbaren Führer waren dagegen; aus höheren Rücksichten wurde es durchgedrückt. Der Vorabend war dumpf und drückend, wie Schlachtvorabende in alten Berichten geschildert werden; wie immer saßen d, e und ich im Zimmer; ich schrieb die Stimmung nieder in einem Brief an f2; dann gingen wir ins Bett.

Morgens 9 Uhr standen die Dokarts von g und mir mit den nötigsten Sachen für ein paar Tage, einem Kopfkissen, einigen Decken, Büchsen, u. s. w. bereit zur Abfahrt in den Unterstand. h und i waren für die Gefechtstage in einen andern gegangen. So wurde dieser für uns frei; und das war bei der weiten Entfernung unseres Quartierortes von den Hauptarbeitsstätten nötig. Wie der Unterstand aussieht, wißt Ihr ja aus dem Bild; er ist so gut und sicher wie nur irgend einer und würde selbst einen schweren Volltreffer zur Not aushalten; rechts und links, vorn und hinten stehen schwere Batterien; und jedesmal wenn einer der 21er Mörser einen Schuß abfeuert bebt die Erde und alles wackelt, die Pferde zittern; nur der Mensch gewöhnt sich so bald daran, daß er nicht mehr hinhört. – Rechts und links von unserem Unterstand befinden sich übrigens die der Leute, Burschen, Stabswache, Ordonnanzen u. s. w. Unser Unterstand hat ein "Wohn- und ein Schlafzimmer", d. h. der Hauptraum, der von einem Tisch mit Stühlen ringsherum gänzlich ausgefüllt ist, geht nach links einige Stufen tiefer in ein Loch mit 2 Holzgestellen und einem Gang dazwischen; auf dem Holz liegt ein Strohsack und halbangezogen [sic!] , mit 2 Decken über einem, träumt man dort trotz Mörser und Granaten die süßesten Träume.| Fenster gibt es übrigens nicht, so daß man immer Kerzen brennen muß, was am Tage nicht sehr sympathisch ist. ---

Dort kamen wir also um 10 an, räumten ein und warteten des Schlages 11, wo die Kanonade beginnen sollte; es war kein Trommelfeuer, das unsere Batterien machten, und doch dröhnte ununterbrochen Schuß auf Schuß. In dem engen Tal hörten wir nur das Feuern der nächsten Batterien, erst wenn man etwas auf die Höhe ging, brauste einem der ganze Höllenlärm um die Ohren. Inzwischen aßen wir friedlich Mittag, das unten Gekochte wurde warm gemacht und schmeckte trefflich.

Um 2 Uhr gingen wir über die Höhen zum Tunnel. Jenseits der Straße jk lagerten die Qualmwolken der französischen Granaten; es war wie ein unaufhörliches Prasseln, wie in einem Hexenkessel brodelte und zischte es; wir waren wie eingesponnen von den Flugbahnen unserer Geschosse.... Am Bahndamm im Unterstand lag ein schwerverwundeter Bayer; l gab ihm die letzte Ölung. Im Tunnel wimmelte es von Truppen, alle in gehobener Stimmung, wie sie immer eintritt, wenn unsere Artillerie schießt. Am Tunnelausgang oben im Wald standen die Feldkanonen; die letzte halbe Stunde vor dem Sturm ist gekommen; es wird herausgeschossen was noch da ist; wie ein unerhörtes Sturmesbrausen rast es über den Bahneinschnitt hinweg. Der Gegner antwortet: Seine Granaten krepieren an den Bahnabhängen; es ist 4 Uhr; etwas stiller ist es schon, still wird es in uns vor Erwartung. Wir trinken mit den Ärzten im Eisenbahnwagen, dem Bataillons-Stabs-Quartier, Kaffee. Ein Leutnant sitzt am Telephon; endlich wird der Major vom Oberst gerufen: "Angriff der ... Divisionen schreitet gut vorwärts."| Der Major tritt an die Schiebetür des Viehwagens und ruft es den Leuten zu; ich stehe unter den Mannschaften krieche mit ihnen den künstlichen Sprengtrichter hinauf und lasse Blitz und Donner über mich weggehen. Jetzt wird das Artilleriewäldchen mit Gasgranaten belegt; weißer Qualm zieht sich zu uns herüber und verstänkert die Kleider; verirrte Gewehrkugeln singen hier und dort wie zwitschende Vögel --- Die ersten Gefangenen werden gemeldet; wir gehen zum andern Tunnelausgang; dort liegen schon Verwundete, auch verwundete Franzosen mit ihren bläulich-grauen Stahlhelmen. Aber wir müssen weiter, immer am Bahndamm entlang zu einer andern Verbandsstelle. Trupps Gefangener werden vorbeigeführt. Verschüttete begegnen uns, die kaum vorwärts kommen. Wir nehmen sie an den Arm, rechts ein Wiesbadener, links ein Posener, so humpeln wir den Bahndamm entlang. Neue Verwundete -- weiter nach Lager "Neupaderborn", wo mehrere Bataillone liegen; es ist stiller geworden und Nebeldunst verhüllt den Vollmond; hier wird in enger Hütte der erste flüchtige Verband angelegt... dunkle Gruppen-, Sanitätswagen; wir gehen zurück zum Tunnel, neue Verwundete; es ist 2 Uhr Nachts, und wir gehen zurück, im Mondschein und Nebel den Weg verfehlend, endlich auf einer Protze3 in Rippen-zerbrechendem Schubtrab nach Haus in den Unterstand.

Das volle Kampfziel ist nicht erreicht, das sickert allmählich durch; und so kam der 31te, der Tag der Angriffe und Gegenangriffe, des furchtbarsten Ringens. Um Mittag standen wir auf einer Höhe; es war so gewaltig, daß die ganze Erde wie das Fell einer Trommel schien, auf das ein Rasender einschlägt. – Und dann bei Einbruch der Dunkelheit marschierten wir los. Es war das gewaltigste militärische und kriege| rische Schauspiel, das ich je gesehen, vielleicht eins der großartigsten überhaupt. Nirgends im ganzen russischen Feldzug, vielleicht überhaupt niemals, ist so viel schwere Artillerie auf beiden Seiten in einem verhältnismäßig kleinen Punkt vereinigt gewesen; die Erde bebte jetzt buchstäblich, die Blitze der Abschüsse zuckten ununterbrochen an allen Teilen des Schlachtfeldes. Die Einschläge zuckt flammten wie Leucht- und Glut-Kugeln, und die Leuchtraketen verbreiteten Tageshelle. Drüben auf der Höhe schlugen französische Brandgranaten ein; Fontänen von Feuer spritzen in die Höhe; Schwefeldämpfe lagern auf dem Plateau über das wir gehen; ich taumelte mehr als ich ging vor der sinnverwirrenden Größe der Eindrücke. Das eigne Leben wurde wie ein Atom in diesem Toben der Elemente durch Menschen gegen Menschen; aber in mir bohrte ein bitterer Schmerz über das Leiden und Sterben, was jede dieser Sekunden über meine armen Regimenter bringt. Endlich; halb bewußtlos, begleitet von dem Brausen der Schlacht, steigen wir in den Tunnel hinab. Das Bataillon ist abgerückt und liegt in Bereitschaft, d. h. Tag und Nacht in Gräben ohne Dach und Unterstand ausgesetzt dem feindlichen Feuer.

Wieder gehen wir die alten Wege und hören an allen Ecken die trübe Nachricht: Nur ein geringer Teil des Beabsichtigten erreicht, große Verluste, viele Gefangene verloren, von der eigenen Artillerie beschossen, die Nebenregimenter nicht mitgegangen u. s. w. wie es nach jeder derartigen Sache durch die Luft schwirrt. Wir zweifeln und fürchten und hoffen. Auf einem Lastwagen gehts zurück durch die blutige Nacht. Am Wegekreuz unten kommen ein paar Jäger an. Es war 11 Uhr nachts; und sie erzählen: m ist gefallen. Und was nun kam, will ich morgen berichten.

[n - o - p - q]|

Mein letzter Bericht schloß mit dem Augenblick, wo am 31. Abends um 11 der Jäger mir den Tod r berichtete; wir kannten uns von Anfang an; wir kamen uns näher, als sein Vater starb und er mir viel davon erzählte; dann wurde er auf 14 Tage stellvertretender Brigadeadjudant und wir gingen öfters zusammen in den Wald und seine Jägerliebe für alles was kreucht und fleucht, seine [sic!] feines Ohr für alle Stimmen in der Natur, seine Jagderzählungen, und die Erzählungen von seiner Brautzeit und eben geschlossenen Ehe, die Bilder von seinem Kriegsmädel und seiner "Hochzeitsreise", wie wir, nach s und t. --- das alles spann Fäden der Sympathie zwischen uns. Und dann kam die Beerdigung von u; v hatte die Nacht vorher 30 Franzosen gefangen genommen, ohne einen Mann zu verlieren, ein echter Jägerstreich; als ich ihn begrüßte, erschrak ich; sein Gesicht war verändert durch die Anstrengungen und – durch Todesahnungen. Nachher kam er zu mir; ich schleppte Kaffee und Mittag und Abendbrot, alles in einer Stunde heran; er konnte sich bei mir waschen, der höchste Genuß seit 14 Tagen; dann ging er, und ich war voll Sorge um ihn, und mit mir noch andere, die ihn gesehen hatten. Um meiner Frau willen möchte ich zurückkehren ... hatte er mir öfters gesagt ... nun ist sein Wunsch nicht erfüllt worden. Das alles, und vor allem der Gedanke an seine Frau durchtobte mich; ich konnte nicht ins Bett; ich schickte w weg und ging zum Hauptverbandsplatz; und das war gut; denn entgegen der Verabredung war niemand da... so blieb ich denn die Nacht im Schwerverwundetensaal. Stunde auf Stunde verrann, Wagen kamen, Autos fuhren, immer wieder neue, erst in den Verbandsraum, dann zu mir in die Baracke. Irgendwann trank ich Kaffee in der Verwundetenküche; alle Stunde schlugen| 5 Granaten auf der Höhe nebenan ein, daß man herausging und dann die Verwundeten beruhigte; es waren ganz alte und ganz junge, Bekante [sic!] und neue aus den neuen Sturmregimentern; jeder erzählte etwas anderes, jeder erzählte, daß die eigne Artillerie ihn verwundet hätte, alle waren trüb und elend; wenige stöhnten, nur einer mußte amputiert werden, fast jede Stunde starb einer und wurde hinausgetragen, rechts und links die Wache bildend zum Eingang; 20 waren es geworden, als die Nacht zu Ende ging, und sie ging zu Ende. Grau und fahl beleuchtete der Morgen Verwundete und Tote; dann telegraphierte ich an x, er solle mich ablösen, ob evangelisch oder katholisch, was macht es in diesen Stunden! Um 9 Uhr kam er und ich fuhr ab; um 1030 lag ich im Unterstand und schlief bis 5 Uhr Nachm. Dann ging es die alten Wege. Auf dem Hauptverbandplatz war y; bei einem Glase Bier dachten wir an vergangene Zeiten; er blieb die Nacht da; wir gingen zurück 1 St. gegen Regen und Sturm durch 30 cm Kalkschlamm, Schritt für Schritt. Bis zu den Knien war eine glatte, weiße Schicht....

Nachmittag war z Beerdigung. Ich konnte und wollte nicht reden; aber die Liturgie hielt ich, wie für aa; es waren die drei schwersten Hände Erde im ganzen Krieg und sie blieben kleben als weißer Lehm, daß man sie hinabschleudern mußte. Dann war alles vorbei; aber 2 Stunden später lagen 7 sarglose Leichen nebeneinander vor mir und ich sprach etwas, aber meine Seele war bei dem einen Grab... und so ist es geblieben bis heut; Tag für Tag, zwei, oft dreimal...

Aber die ab ist fest in unsern Händen.

[ac - ad - ae]


Fußnoten, Anmerkungen

1a beschreibt im folgenden seine Lage in der Herbstschlacht in der b, genauer die deutsche Gegenoffensive bei c, die vom 30. Oktober bis 6. November 1915 andauerte. Während der Herbschlacht gab es auf beiden Seiten insgesamt über 200.000 verwundete und getötete Soldaten.
2Liegt nicht vor.
3Die Protze ist ein einachsiger Vorderwagen, mit dem ein Gestell transportiert wird, auf das ein Geschütz montiert werden kann.

Register

aTillich, Paul
bChampagne
cMinaucourt-le-Mesnil-lès-Hurlus
dEbermann, Arthur
eKapell, ???
fTillich, Margarete
gKapell, ???
hBonin, Henning von
iPfeiffer, Erich
jSommepy-Tahure
kSouain-Perthes-lès-Hurlus
lEbermann, Arthur
mBartenstein, ???
nTillich, Margarete
oTillich, Johannes Oskar
pTillich, Marie
qTillich, Johannes Oskar
rBartenstein, ???
sKoblenz
tAssmannshausen
uBaumann, ???
vBartenstein, ???
wKapell, ???
xKapell, ???
yDohrmann, ???
zBartenstein, ???
aaBaumann, ???
abButte-de-Tahure
acTillich, Margarete
adTillich, Johannes Oskar
aeTillich, Marie

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974., bMS 649/193(13)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Greti Tillich, Johannes Tillich und Marie Tillich vom November 1915, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00454.html, Zugriff am ????.

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