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Lichtenrade , den 27.09.1913

Lieber Tillich,

heute Abend kommen die Eltern wieder. Ich will Ihnen nur schnell einiges sagen. Johanna schrieb mir einen famosen Brief. Ich freue mich, durch all dieses Elend doch wenigstens einige Seelen, die wirklich leben, kennen zu lernen. Tillich, ich hoffe, ich bin nächste Woche recht vernünftig und sachlich. Ich weiß ganz genau, daß es meine Pflicht ist, Ihnen nicht mein ganzes Leben nachzutrauern, sondern daß ich auch jetzt noch das Leben bejahen soll, wie ich es bis jetzt getan. — — — — | Aber in all dem Kampf, wo man nirgends Ruhe findet, darf ich mich doch bei Ihnen immer ausruhen? Vielleicht wird es mir später leichter, aber jetzt brauche ich noch einen menschlichen Halt! Und Sie wissen ja, wie ich hier zu Hause angesehen werde. Seien Sie nur, was mich anbetrifft, ganz offen zu Greti. Sonst kann ich auch nicht mehr offen zu Ihnen sein! — Wenn auch an mir selbst und sonst viele Hindernisse sind, so habe ich doch den Willen Greti lieb zu haben, und ich habe die feste Gewißheit, daß es mir möglich ist. Nicht wahr, wie Bruder und Schwester wollen wir uns lieben? Aber ein glücklicher, starker, großer Bruder soll seine | traurige kleine Schwester auch manchmal trösten, und darf ein bißchen zärtlich zu ihr sein, wenn sie Liebe so dringend nötig hat u.und so schrecklich einsam ist. — Nicht, weil Sie im allgemeinen jetzt so glücklich sind, daß Sie die ganze Welt umarmen möchten, sondern, weil Sie auch in mir die Persönlichkeit achten, deshalb sollen Sie nett zu mir sein. — — — — — Sie sind doch sehr glücklich, Sie vielgeliebter Mensch! Ihre Schweter liebe ich jetzt 3 x so sehr, wie früher. Ich habe mir schon 3 Fragen aufgeschrieben. Nun kann die "Sachlichkeit" anfangen. Ich freue mich unendlich auf nächste Woche. Grüßen Sie Greti auch | von mir, hoffentlich war die Operation an der Nase nicht schlimm. Gott mache Sie recht, recht glücklich, daß Sie wenigstens mein Ideal von einer Ehe verwirklichen, wo ich es nun vielleicht nie kann. — Darum bete ich. — Eins ist mir klar, daß wir nicht dazu leben, um unwiederbringlich Verlorenen nachzutrauern, sondern um uns neues zu schaffen, wenn wir uns auch damit heftig verwunden und dem manchmal unterliegen müssen, daran zu Grunde gehen. — — Nun leben Sie wohl. Kommen Sie recht bald. Montag früh werde ich Sie wohl anklingeln.

In Treue
Ihre Maria Klein.
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