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Neviges, den 4.Sept. 07.

Mein lieber Paul,

Hab vielen herzlichen Dank für Deinen lieben Geburtstagsgruss1], den ich mit vielen andern bei meiner Heimkehr hier vorfand, und der mir eine so grosse Freude gemacht hat, dass ich den ersten Erwiderungsgruss an Dich senden will, nachdem ich gestern den leider so lange liegengebliebenen Rundbrief weiterbefördert habe. Über meine Reise Dir Näheres zu berichten, würde wirklich zu weit führen; ich wüsste nicht, wo anfangen u. wo aufhören; die Hauptsachen wirst Du im Rundbrief finden. Für Deine lieben Wünsche u. Ratschläge bin ich Dir recht von Herzen dankbar. Ich stimme | Deinen Zukunftsgedanken vollständig bei. Nur ist es, wie mir scheint, weit leichter, eine schöne Theorie aufzubauen u. nach allen Seiten durchzuführen, wenn uns das ja auch Mühe genug gemacht hat, als diese Theorie im praktischen Leben zu verwirklichen. Darauf kommt jetzt in Halle alles an, und ich will versuchen, nach Kräften daraufhin zu wirken. Dass Du zu der theoretischen Arbeit ungleich geeigneter bist als ich, ist ja ganz selbstverständlich, dass mir die Arbeit an der praktischen Durchführung leichter werden wird, muss ich ernstlich bezweifeln. Es fällt mir furchtbar schwer, mit Leuten, denen ich persönlich nicht ganz nahe stehe, über religiöse und intimere Dinge so offen zu reden, wie es eigentlich möglich sein sollte. Das habe ich auch im letzten | Semester öfter erfahren, besonders an meinem Lfx Mohn, wobei die Schuld auch sehr auf meiner Seite lag. Und ob ich in den feineren Verbindungsfragen energisch genug die Leute heranholen kann, das ist eine bange Frage des kommenden Semesters. Hier greift auch die Frage der Bibelkränzchen ein. Im kleineren vertrauten Kreise, wie wir ihn hatten, habe ich mich recht wohl gefühlt, und ich glaube, alle Teilnehmer haben Förderung davon gehabt. Dennoch gebe ich Dir im Principe recht, dass die Zahl grösser und die Zusammensetzung gemischt sein muss, aber dann sind die Schwierigkeiten recht gross, mir persönlich wäre es recht schwer, dann die Leitung zu übernehmen. Es ist schade, dass wir darin noch nicht weiter sind; es lassen sich so schwer | praktische Grundlinien ziehen. Eins ist mir klar, dass wir es nicht so machen dürfen wie in der D.C.S.V., sondern dass ein gründliches Verständnis des Textes Grundvoraussetzung sein muss, man darf nach meiner Meinung die Textexegese nicht ausschalten, sondern muss mit ihrer Hülfe weitergehn. Ob nicht Herrmann mal einen diesbezüglichen Artikel loslassen könnte? Er ist in diesen Dingen so viel geschickter u. erfahrener als wir. In Halle will ich versuchen, möglichst viele einzurichten, wenn dabei auch Vorsicht nötig ist. Denn die Gefahr des Offiziellen oder auch des Hochoffiziösen muss unbedingt vermieden werden. Ich habe von mehreren Leuten, deren Urteil ich schätze, die Meinung vertreten hören, dass Bibelkränzchen derart für uns nicht passend seien, dass man jedenfalls die in| dividuelle Freiheit ganz wahren müsse. Das Erstere ist mir zwar etwas unverständlich, aber es mahnt doch zur Vorsicht. Überhaupt bin ich über die hohe Aktivenzahl nicht so erfreut, die Schwierigkeiten wachsen dadurch beträchtlich. Nun, mit Gottes Hülfe wird es schon gehn, und ich finde immer mehr ein ganzes, freudiges Ja zu meiner Charge. Ich hoffe, dass ich den Weg ebenso schön u. dankbar nachgehen darf, wie Du ihn mir vorangegangen bist. In der Umänderung der Caffongs in Kränzchen sehe auch ich einen guten Fortschritt, doch halte ich es für besser, dass sie freierer Art bleiben mit stets wechselnden Kreisen, so dass man vielleicht irgend eine kleinere Sache liest, die für einen Nachmittag geeignet ist. Dass man die Leute auf ihren Wunsch hin ins Theater gehen lässt, | halte ich ganz für berechtigt; Du hast es darin als Berliner gut, aber den meisten ist nur hier solch eine Gelegenheit geboten, die sie mit Recht benützen. Das Bedenkliche liegt in dem Übelstand, dass die Opern immer mit den Kneipabenden zusammenfallen. Was Du von dem Werte der pünktlichen Statutenbefolgung schreibst, unterschreibe ich vollständig, und ich darf es Dir hier noch aussprechen, wie furchtbar dankbar auch ich Dir für die energische Arbeit der Statutenrevision bin; sollte ich Dir mit meinem Spotten darüber einmal weh getan haben, so tut es mir herzlich leid. Ich weiss sehr wohl, welch eine Tat damit geschehen ist und will mit Dank ihre Früchte geniessen. Hoffentlich hast Du in Misdroy eine schöne | Zeit verlebt u. vor allen Dingen Dich recht gut erholt. Es war gewiss ein sehr nettes Zusammenleben mit Deinem lb. Lfx. Er schrieb mir auch zum Geburtstag einen reizenden Brief. Hoffentlich kann er sich im nächsten Semester wohlfühlen. Seine ernste Lebensauffassung macht ihm ja das Leben nicht gerade leichter, wohl aber schöner. Seine Stellung zur und in der Verbindung wird ihm wohl noch manche Schwierigkeit machen. Aber man muss ihn lieb haben. Ich war der Meinung, Du würdest noch länger an der Ostsee geblieben sein. Hoffentlich hast Du den guten Willen, auch in Berlin vernünftig zu leben, dann geht es auch, Du weisst wohl, was ich darunter verstehe. In Deiner Arbeit wünsche ich Dir rechten Erfolg u. innere Befriedigung. Mögest Du | mir auch darin mit gutem Beispiel vorangehen, ich will versuchen, ob ich folgen kann. Ich hoffe, dass Lorenz mich noch auf 2 Tage besucht, ich habe ihn trotz seiner Schwächen recht gern; vielleicht tut ihm der Tübinger Aufenthalt gut. Wie die Sache Schlemm steht ist mir ganz unbekannt, doch habe ich bei Jonas angefragt. Der alte Herr hat sich rührende Mühe gegeben. Ich freue mich, jetzt noch ein paar ruhige Wochen vor mir zu haben, ich versuche etwas zu arbeiten; die Pauken ruhen noch gänzlich ungeboren. – Verzeih, dass ich Dir nicht länger zum Geburtstage schrieb, aber auf der Reise war es mir nicht gut möglich. Gedacht habe ich doch an Dich. –

Grüsse Deine lb. Angehörigen recht herzlich von mir. In treuer Liebe u. Freundschaft Dein
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