Lieber Paul!
Irgendwie muß sich doch ein Geburtstagsbrief vor anderen Briefen auszeichnen; meistens wird das ja wohl durch besondere Geistverzapfung geschehen; da das aber bekannter Weise bei mir unmöglich ist, so greife ich zu dem Quantitativen, und dazu fange ich volle 8 Tage vorher damit an.
Den heidnischen Wunsch vom vorigen Male wiederhole ich nur mit großer Einschränkung, Dein eigener Wunsch dürfte wohl kaum immer zum eignen Besten sein, besonders wenn es gilt, auf die Gesundheit u die Nerven Rücksicht zu nehmen. Am liebsten wünschte ich Dir noch ein ruhiges Hallenser Semester, aber auch das in Berlin kann Dir nicht schaden. – Das war bis jetzt Quatsch, aber wie ich meinen Wunsch formulieren soll, weiß ich selbst kaum, also alles Gute.
Das möchte ich gleich vorweg bemerken, daß Du mein Geschreibsel so bekommst, wie grade mir die Einfälle und Gedanken kommen. Auf | stilistische Vollkommenheit mache ich hier keinen Anspruch, im Gegenteil, wenn auch sonst ich selbst leicht durch schlechten Stil in Büchern unangenehmer berührt bin.
Morgen bin ich eine Woche hier, und mir ist, als wenn ich kaum weggewesen wäre, dazu
trägt sicher die Regelmäßigkeit des Lebens viel bei im Unterschied zu Halle. Die Reise war öde, 14
Stunden in 4. Klasse sind kein Vergnügen. Die vielgerühmten psychologischen Studien,
die man ja machen kann, dienen doch meistens nur der Erheiterung, und sind auch nicht
allzu oft zu finden, allerdings sind gewisse Strecken ja besonders dazu geeignet.
Diesmal waren die Züge übervoll. Eine kurze Strecke fuhren ichwir mit einem Taschenkünstler zusammen, der von Wagen zu Wagen
ging u seine Kunststücke vormachte, dabei auch nicht schlecht verdiente. Der Mann
verdient damit sein täglich Brodt, daß er immer reist u seine 3-4 Kunststücke zeigt.
Dann fuhr ein Assessor mit Familie mit mir, sie wollten nach Hamburg. Er hatte eine gar reizende
Gören, die sich mit fast allen Mitreisenden famos anbiederten. Außerdem wurden uns
mehrere Sorten Bonbons von 3 Leuten nacheinander angeboten, doch mit wenig Erfolg.
Um
9 war ich hier,|
und bekam gleich soviel zu essen, daß ich am folgenden
Tage kaum 1/2 Stunde ruhig sitzen konnte.
Sehr froh war ich, daß meine Sachen auch den selben Tag kamen, darunter auch meine
Bücher. Gleich am Nachmittag arbeitete ich mir einen Stundenplan aus, der mir als
Regel dienen soll da an den ich mich aber nicht sklavisch binde, z. B. heute habe
ich
mit dem Brief eine Ausnahme gemacht. – Doch jetzt muß ich herunter zum
Mittagessen.
Nachdem ich meine Mittagszigarre geraucht u dazu eine Broschüre von Dennert "Naturgesetz Zufall" gelesen habe, fahre ich fort.
Vielleicht interessiert es Dich, etwas über meine Arbeit zu erfahren. Um 6 3/4 stehe ich auf, trinke Kaffee und mache mir dann im Garten zu tun. Um 8 gehe ich auf meine Bude u arbeite, 8-9 AT/ Jesajas, 9-10 Häring, Dogmatik, 10-12 NT nach Weiß u Zahns Einleitung. Nach Tisch lese ich erst etwas u dann arbeite ich Geschichte der Philosophie. Nachmittags, d.h. nach 4 gehe ich spazieren oder tue was im Garten, aber 1 Stunde bleibt für Härings Ethik vorbehalten. Diesen Plan habe ich bis jetzt ziemlich durchgehalten, z. T. auch noch etwas Kirchengeschichte gearbeitet. Aber auf allen| Gebieten habe ich eine furchtbare Unkenntnis, u was noch mehr ist, alle die Probleme oder wenigstens viele stoßen mir zum ersten Male auf. Und dann wenn ich etwas lese so fehlt mir der rechte Maßstab der Kritik, ich bin manchem einfach ausgeliefert. Auch wenn ich ein Gefühl der Antipathie dagegen habe.
Vielleicht zum letzten Male für lange Zeit sind wir 8 Geschwister vollzählig hier,
mein ältester Bruder aus Halle,
der übrigens nicht mit dem Georg v.
Hanffstengel zu verwechseln ist der sich an der Technischen Hochschule in Berlin als Privatdozent habilitiert
hat, hatf auch für diese Woche Urlaub genommen. Mein jüngerer
Bruder, der bis jetzt in Lübeck in einer Maschinenfabrikge
praktisch gearbeitet hat, will Tiefbau studieren u nach Hannover gehen, doch ist er
selbst noch nichtk ganz klar über seinen Beruf, er schwankt
noch, ob er nicht doch Theologie studieren soll. Ich rate ihm natürlich sehr zu, ich
hoffe, mit Erfolg.
Gestern kam von Wilm v. d. Smissen eine Karte mit der kurzen Notiz "anschwirren", wir hatten in Halle schon verabredet, einander zu besuchen. Leider kann ich nun erst am Freitag,| eben jener Familienversammlung wegen, Witte werde ich dort auch treffen, worauf ich mich sehr freue. Heute bekam ich auch die Wingolfsblätter mit seinem Artikel1]. Was er an Schäden geißelt, ist ja ganz richtig, wenn auch wohl übertrieben, aber der Weg der Besserung, den er vorschlägt, scheint mir ungangbar. Wir können uns doch als Studenten oder gar als Korporation nicht politisch irgendwie praktisch betätigen! Schon das Schleppen bei der Wahl – ich habe es ja auch mitgemacht – halte ich für durchaus unberechtigt, solange es verboten ist, daß die andern Parteien dasselbe Mittel benutzen, d. h. durch irgendwelche nicht stimmberechtigte Leute ihre Leute zur Wahl zu bringen. Doch wird man abwarten müssen, was in der nächsten Nummer kommt.
Um meinen schwachen Körper etwas zu stärken, turne ich abends ziemlich viel. Mein
Bruder Otto turnt ganz
großartig und hat vor allem Riesenkräfte. Auch mein 12jähriger Bruder Karl, genannt Salem, turnt
bedeutend besser als ich. Außerdemhab hantele ich regelmäßig,
die Hanteln hat Otto in Lübeck selbst gemacht. Ich|
werde sie auch wohl mit nach Göttingen nehmen.
Bremervörde. 21. VIII. 07.
Zwar ist Dein Geburtstag schon vorbei, aber meine
beiden Karten2] werden Dir zeigen, daß ich an Dich gedacht habe und daß mir der
Brief schwer auf der Seele lag. Einfach schlemmerhaft waren die Tage, besonders bei
Wilm. Alles zu erzählen
würde zu zeitraubend sein, ich will nur von unsrer Tour nach Blankenese erzählen, die Wilm, Hans Bertheau u ich am Sonnabend
machten. Wilm u ich gingen
morgens zu Bertheau u hatten
vor, irgend was zu unternehmen. Bertheau war riesig nett u schlug Blankenese vor. Ich war noch nie dagewesen, also
war es mir sehr lieb. Wir fuhren also die Elbe runter, ca 3/4 St. lang. In Blankenese frühstückten wir energisch, wobei wir tadellose Aussicht hatten.
Währenddessen kam ein Regen, der sich lange ausdehnte. Trotzdem sahen wir uns
zunächst den Ort an, gingen dann nach mancherlei Irrungen die Elbchaussee bis|
Nienstädten. An beiden Seiten der Chaussee liegen prächtige
Villen, die den reichen Hamburgern gehören. Dabei hatte man fast immer Aussicht auf
die Elbe, auf der viele große u kleine Dampfer hin u. herfuhren. In Nienstädten erholten wir uns wieder bei einem sehr ergiebigen Caffon, wie
wir ihn selbst in Halle nie
gemacht haben, Bertheau fragte
auch nach Kalfhaus u war mit
unserem Handeln sehr unzufrieden. Seine Darstellung lautete auch wesentlich anders
als die Meyersiecks u die der
Godesberger Philister. Der ganzen Sache liegt offenbar ein Klatsch u Krach in der
Godesberger Anstalt zu Grunde, bei dem offenbar Kalfhaus von einigen verleumdet worden ist, aber sich
gerechtfertigt hat, sodaß seine Gegner den Kürzeren gezogen haben. Kalfhaus ist schon früh
Inspektor u Vorsteher eines Hauses dort geworden, da er als Lehrer tüchtig ist, u
das
hat ihm Mißgunst älterer zugezogen. Also eine ganz üble Klatschgeschichte, in die
besonders Ebers verwickelt ist.
Jetzt ist ja nichts mehr zu machen,|
und etwas parteiisch wird auch diese
Darstellung wohl sein. Bertheau
wußte das alles von Witte, der
aber nicht mit allem herausgerückt war. Sehr amüsierte ich mich über Bertheau, der genau wie Lorenz über alles Preußische u
bes. Altona herzog.Fr Am Sonntag Morgen war ich mit Wilm u seinem älteren Bruder in die Heide, etwa 2
Stunden von Stellingen entfernt. Heinrich v. d. Smissen ist
Chemiker, Assistent an der Hochschule in Berlin, u will nächstens auch seinen Dr. machen bei Erdmann. Wir machten geologische
Studien in Torf und Erz, dh. Eisenstein, der fast überall unter der Erde liegt. Vom
Hagenbeckschen Tiergarten will ich nicht viel erzählen, nur daß es etwas berechtigt
ist, daß er solch Aufsehen erregt, es ist wirklich fein. Den ganzen Tag ist es voll,
die Elektrischen können die Besucher kaum alle befördern, selbst mit der Bahn kommen
viele nach Hamburg blos dazu. Und das bei diesem Wetter, wo es alle
Augenblicke regnet u dann wieder tadellos ist. Montag Morgen fuhr ich mit der
Elektrischen 1 1/2 St.|
nach Horn um Scheteligs zu besuchen. Wir
hatten das auch schon in Halle
verabredet. Ihr Vater war mit meinem Vater in Leipzig aktiv, u sie waren Conhäuser, oder wie
sie es damals nannten Hausknochen. Zugleich war Ragué da, der bald
nach Amerika zurückkehrt, aber erst noch Deutschland durchreisen will! Wir lebten
die
beiden Tage da sehr gemütlich. Am Dienstag fuhren wir an die Alster, fuhren mit einem
Alsterboot nachOhlsdorf
Winterhude, von da mit der Elektr.
nach Ohlsdorf, um den prächtigen
Hamburger Kirchhof anzusehen. Das war dann auch wirklich prächtig. Solche Anlagen
haben wohl wenige Parke, u nur ab u zu fliehen an den Seiten der Wege in
wunderhübschen Blumenanlagen unter Bäumen einige Reihen von
Hoabern.
Sehr interessant war es, wie an den Kapellen alles Kranzartige vermieden oder
höchstens ganz oben angedeutet ist, um jedes spezifisch christliche am Bau zu
vermeiden.|
Auf diesem Kirchhof wird ja auch alles beerdigt, wohl
täglich 57; nur die Juden haben einen eigenen Kirchhof. Die größeren Wege sind alle
benannt, da es ein riesig großes Gebiet ist, das noch immer vergrößert wird. Dienstag
Nachmittag waren wirauf den im Hafen zu einer Rundfahrt, die
wirklich sehr lohnend ist. Bei dem starken Winde gingen die Wellen oft vorn über
Bord, was uns aber nicht vertrieb. Dann brachten sie mich zur Bahn u um 525 dampfte ich wieder ab. Ich bin doch froh wieder hier zu sein,
jetzt will ich morgen wieder anfangen, ordentlich zu arbeiten. Auch im Garten ist
allerhand zu tun. Z. B. habe ich heute den Hühnerstall gereinigt, ein besonders
duftreiches Geschäft. Doch nun Schluß!
Hoffentlich bald Anti.