Brief von Johannes Tillich und Toni Winkler an Paul Tillich vom 26. Mai 1906

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Berlin, d. 26./V. 06.

Mein lieber Sohn.

Endlich komme ich einmal dazu, einen Brief an Dich zu diktieren. Ueber die fortgesetzten guten Nachrichten von Dir freuen wir uns sehr. Siehe nur zu, daß Du nicht zu viel arbeitest, u. gönne Dir ein paar Tage der Erholung in den Pfingstferien. Vielleicht ist Ilmenau nicht zu weit wo Tante Lenchen wohnt, die würde Euch vielleicht ein billiges Quartier beschaffen können. Uebrigens ist der Harz ebenso nah. Nach Eisenach zu gehen haben wir endgültig aufgegeben. Die Tage dort wären zu anstrengend für mich. Ich denke mich besser bei Pastor Horn zu erholen, wohin| Johanna mitgehen wird, etwa vom 5. – 9. Juni. Einiges möchte ich noch auf Deinen Kollegienbericht erwidern: Ich verstehe, was Dir an Kähler anstössig ist, aber es bleibt dabei, dass man nur durch den Glaubensakt oder durch die Wiedergeburt in den Kreis der christlichen Erkenntnis gelangen kann. Daß der Glaube einerseits durch das Wort Gottes in der Schrift gewirkt wird, und andrerseits doch als neues Organ der Erkenntnis der Bibel gegenüber seine relative Selbstständigkeit hat, ist durchaus keine Paradoxie. Dorner hat ähnliche Ausführungen.| Auch Lütgert stimmt damit überein, wenn auch sein Aufbau etwas anders ist. Es giebt eben keine voraussetzungslose Wissenschaft, insonderheit gilt das von der Theologie, sowohl bei der Ethik wie bei der Dogmatik. Lies einmal wieder 1. Cor. 2. v. 4–16.

– Nächstens wird in den Wingolfsblättern ein Artikel von mir erscheinen, eine scharfe Entgegnung auf den Angriff von "Heppe" in № 16., der Euch auch geärgert haben wird. Im Berliner Wingolf ist man ziemlich einig und vermeidet bei vermittelndem Standpunkt scharfe Auseinandersetzung. Ich denke, der Göttinger Vertagungsantrag wird die notwendige| Entscheidung herbeiführen. Haltet nur Euren Zusatz zum Prinzip fest. Auch Berlin giebt hierin nicht nach, nachdem man den neuen Zusatz (religiöse Auffassung) im vorigen Semester beschlossen hat. – Endlich noch die Mitteilung, daß wir unsere Sommerferien vom 9. Juli – 17. August zu halten gedenken. Nun behüte Dich Gott und gebe Dir viel Pfingstsegen. ––

Gruß u. Kuß Dein tr. Vater

Lieber Paul,

auch von mir noch einen recht schönen Sonntagsgruß! Gestern war die erste Pfingstbetstunde Pastor Braun, außer daß sie etwas zu lang war, war es sehr schön, ich freue mich schon auf heut, Past. Conrad, der mir zwar voriges Jahr garnicht gefiel, aber wer weiß, ob sich mein Geschmack nicht geändert hat, oder er jetzt nicht mehr so laut schreit. – Papa wird morgen von den alten jungen u. jungen Mädchen beschert, er bekommt einen Aktenständer u. 1 Werk Zahn, Einführung in das Neue Testament, 2 Bände 25 MK Er weiss es aber noch nicht. –

Nun leb wohl, sie sehr gegrüßt von D. tr. T. Toni
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    • Zahn, Theodor. Einführung in das Neue Testament, Leipzig 1887.