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den 01.01.1921

Arme, liebe Geliebte!

Wie ist es nur möglich, daß Du Dienstag früh noch keinen Brief hattest? Ich hatte ihn Ende der Woche mit „eilt“ abgeschickt. Aber es geht manchmal nach Zehlendorf sehr langsam. – Heut Nacht habe ich geschlafen; aber das Fieber ist noch da, und ich möchte nicht aufstehen! – Das waren Deine schönsten Verse, die heute früh kamen, und um ihretwillen bin ich der Post fast dankbar für ihre Bummelei. Heut sah ich Dich zum ersten Mal plastisch, in unmittelbarer Intuition, als Dichterin. Heut war ich zum ersten Mal stolz, daß meine Freundin schaffend ist noch in ihren Schmerzen. Und heut wußte ich auch die Last, die sie mir auferlegt, die beglückende, treibende, daß das, was wir gemeinsam haben, nie zu wenig werden darf, um tiefste Quelle ihres Schaffens zu bleiben. Tausend andere Anregungen, Menschen und Dinge, Eros und Logos dürfen und müssen Dich befruchten; aber daß Du fruchtbar bist und bleibst, das muß Gottes Werk durch mich sein, wie sein Werk durch Dich | meine Schöpferkraft. Werde ich das sein können? Hannah! Oft bin ich in Sorge um der Grenzen meines Wesens willen. Denn es darf ja nicht nur so sein, daß ich durch Dich über mich hinauskomme, sondern auch Du mußt es durch mich! Und wenn dann Deine Worte auf mich einströmen in ihrer ganzen Herrlichkeit, dann kann ich es oft nicht fassen, daß Du zu mir gehörst. Liebe Hannah! Es ist alles so selig und alles so schwer in unserer Liebe! – Dein Zimmer ist noch unverändert, die weiße Chrysantheme hat einen Schößling getrieben, der jetzt blüht und leuchtet von der Unvergänglichkeit unserer Liebe; die Tannen leuchten frisch wie am ersten Tag; und Dein Geist herrscht uneingeschränkt in jedem Ding; ich schlafe jetzt hier, weil nebenan vermietet ist. Wir sind sehr zufrieden mit Egli; er hat sogar schon gezahlt! Täglich rede ich mit Dir. Meine Seele ist immer bei Dir!

Paul

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