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D. 25ten

Liebe süße Hannah!

Was vorher Mangel war ist jetzt Fülle: Heute kamen 4 Briefe1] von Quiberon und Le Palais, darunter die Bilder von Dir und Erdmuthe, die mich, wie alles was Du schreibst, sehr glücklich machen. – Du beklagst Dich, daß ich so wenig von hier berichte. Aber es ist kaum etwas zu berichten. Die Natur hat nicht die Inhalte und die Dialektik wie der Geist. Und unsere Existenz ist fast wehrlos der Natur hingegeben. Seit einigen Tagen haben wir warmes und seit gestern sonnig-heißes Wetter. An immer anderen und herrlichen Plätzen, die wir je nach Sonne und Wind suchen, erfassen wir diese trotz aller Wildheit so geformte Landschaft von früh bis spät. Die unendlichen Dünen der Ost- und Nordsee liegen mir wesensmäßig viel näher. Aber diese kraftvolle Endlichkeit hier ist doch eine fabelhafte und notwendige Ergänzung. Immer wieder und eigentlich immer mehr regt uns die Flut auf. Zunächst| die Schnelligkeit, mit der sie kommt: Um zu unserm Strand und den schönsten Felsen zu kommen, müssen wir über eine lange schmale Bucht. Bei Ebbe geht man auf einem gemauerten Steg trocken durch, bei Flut verkehrt eine Fähre. Während der Übergänge zwischen beiden muss man auf dem Steg durchs Wasser waten. Heut war es nun so, daß wir auf dem völlig trocknen Steg gingen, uns eine Sekunde mit der Betrachtung eines Krebses aufhielten, und schon im nächst Augenblick waten und springen mußten, um nicht nasse Schuhe zu kriegen. Als wir durch waren, flutete es über den ganzen Steg. Und dann die ozeanischen Flutwellen. Es ist in diesen Tagen völlig windstill, bei Ebbe ein leichtes Geplätscher. Wenn aber die Flut kommt, erheben sich aus der glatten Fläche riesige, breite, endlos lange Wellen, die langsam ankommen, am Ufer zu phantastischer Höhe steigen und mit ungeheurem Getöse auf die Felsen brechen, daß der Schaum bis oben zum Heidekraut spritzt. Mit der Ebbe verschwinden sie wieder. Gerade während ich das schreibe, entwickelt sich eine solche| Flut. Unser Baden richten wir ganz nach der Hochflut. – – –

Und nun die Menschen: Wir haben niemand, kennen niemand, reden mit niemand. Am Strand sind nur Familien, die Frauen graziös und hübsch wie fast alle Französinnen, viele Kinder, die wie Eckart mit Recht sagt, "auf Engel" erzogen sind, überaus süß und artig. Männer wenige, auch sie erstaunlich geformt. Eckart sagt, er könnte die Vollkommenheit dieses Volkes nicht länger ertragen. Jedenfalls ist es für uns fast unmöglich, an Sie heranzukommen. Sie sind nie unhöflich; aber immer gleichsam zurückweichend, nachgiebig, und dadurch unzugänglich. Zum Teil bezieht sich das auf den Deutschen und geht auch vom Engländer gegen uns aus. Zum größeren Teil ist es die Mißstimmung gegen die Fremden überhaupt. In jeder Zeitung ist jeden Tag irgend eine Bosheit zu lesen. Ich habe mich in Italien keinen Augenblick so als Fremder, Schutzloser, fast Gedrückter gefühlt, wie jetzt hier.

Im Übrigen ist die französische Provinz, mit der wir bis jetzt| fast ausschließlich zu tun hatten, genau wie die Straßenbilder von Utrillo: Kleinbürgerliche Langeweile, graziöses, sehr enges Spießertum. Viele Kinder, alle Frauen handarbeitend; und doch nicht die Plumpheit des Berliner oder Dresdner Spießers. Absolute Herrschaft der bürgerlichen Konvention im Guten und Schlechten. Dabei folgende Beobachtung: Die Engländerinnen, die innerlich viel prüder sind, sind mit ihrem Körper (Badeanzug etc) viel freier. Ihre Unerotik erlaubt es ihnen. Die Französinnen dagegen, die Erotik in jedem Schritt und Wort haben, sind viel ängstlicher und befangener. Der Körper bedeutet für sie etwas, darum verbergen sie ihn mehr.

Noch etwas: Das französische Nationalgefühl. Es ist das Erstaunlichste, was ich kenne, eine völlig religiöse, unbedingte Angelegenheit, die jede Äußerung jedes Franzosen in jedem Augenblick durchdringt. Dagegen erscheint unser völkisches Gemache künstlich, unangebracht, profan. "La France" ist das höchste metaphysische Symbol dieses Volkes, darüber hoffe ich später noch mehr sagen zu können.

Ich bin in Gedanken oft im Dresdner Garten.

Dein Paul.

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