Brief von Paul Tillich an Mathilde und Wilhelm Wever vom Oktober/November 1914

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Wenn Ihr diesen Brief bekommt, sind die schwersten Tage hinter Euch, aber in gleicher Stärke bleibt der Schmerz noch auf lange hin, und kann er Euch nie mehr verlassen. Zwei Kinder in vollster schönster Jugend – das ist so bitter wie weniges. Und der eine der älteste Sohn!1] Und doch ist es etwas Großes zu denken, daß er den „schönen, den schönsten Tod“ gehabt hat, daß er, der Soldat, an hervorragender Stelle fürs Vaterland gefallen ist. Die wunderbare Versöhnung, die meiner Empfindung nach über all dem tausendfachen Sterben um uns her schwebt, daß all diese Toten nicht für sich gestorben sind, sondern für etwas, das größer ist als jeder einzelne. So wird das Sterben nicht bloß wie sonst zu einem Naturereignis, dem wir in machtloser Bitterkeit gegenüber stehen, sondern zu einer Tat, in die wir unsern ganzen Willen, unser Bestes, unsre innerste Persönlichkeit hineinlegen. Dadurch wird bewiesen, daß die Persönlichkeit allem Natürlichen, auch dem Sterben, überlegen ist. So ist denn auch, das ist meine innerste Gewißheit, unser lieber Wolf zu dem Leben zurückgekehrt, aus dem alles persönliche Leben stammt, zu der ewigen Heimat, die niemanden lieber aufnimmt als den Helden, der sein Leben in der Zeit gering geachtet hat um der ewigen Güter willen. Diese Gewißheit, liebe Eltern, trägt mich jetzt hindurch, durch all das Sterben um mich her und hilft mir hinweg über den Gedanken, daß auch ich jederzeit diesen Weg gehen kann. Diese Gewißheit trägt auch Greti und macht sie stark und doch nicht bitter und verzweifelt. Und nun eine Bitte: den einen geliebten Sohn habt Ihr verloren, und niemand und nichts auf der Welt kann ihn Euch ersetzen. Aber das bitte ich, daß Ihr mich noch mehr als bisher als Euren Sohn betrachtet, der dankbar ist für alle Liebe, die Ihr ihn fühlen laßt, insonderheit von Dir, liebe Mutter, die mir die eigene ersetzen soll. Ich habe in diesen Tagen an dem Schmerz, der mich gepackt hat, recht tief empfunden, wie eng ich schon zu Euch gehöre und wie ich Wolf schon als Bruder fühlte. Eins weiß ich, der ewige Wille, der über uns allen steht, will auch mit dem Schwersten und Unbegreiflichsten nicht unser Weh, sondern zuletzt unser Bestes, untereinander und für jeden allein. Diese Gewißheit macht uns alle stark.

Euer
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