Brief von Johannes Bertheau an Paul Tillichvom 6. Mai 1907

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Hamburg 3, 6.V.07.
Pastorenstr. 13

Lieber x,

Eben lese ich Deinen Artikel in den W.ingolfs-Bl.ättern, und möchte Dir daraufhin kurz schreiben. Die Sachlage ist ja nachgerade so verworren, daß man als Philister keinen Überblick darüber hat, d. h. was die einzelnen Anträge, Vorschläge etc. angeht. Aber wenn dies, was Du schreibst, das Resultat der ganzen Sache für "Halle" ist, dann muß es allerdings trübe aussehen.

Mir scheint, daß wenn man jetzt den Activitätszwang aufhebt, dies einfach einem Nachgeben in der ganzen Principsache gleichkommt. Mehr hat die "liberale" Sorte - wir sind ja unter uns u können uns kurz ausdrücken - nie gewollt. Der ganze Ansturm hat sich darauf gerichtet, "liberalen" oder "farblosen" Principien in den Bund zu bringen. Man war in Ha. immer davon überzeugt, daß das nicht nur ein Kampf um Worte war, sondern daß die betr. Verbindungen, die besonders nach dieser "Befreiung vom dogmatischen Joch" seufzten, auch in ihrem ganzen Leben und Wesen von dem Wesen einer alten und ersten Wingolfsverbindung abwichen. Man kann das vielleicht neuerdings nicht mehr von allen principmodelnden Verbb. sagen, weil jetzt auch technische dabei sind, bei denen die theologische Umbildung und der allgemeine | Freiheitsdusel hinreichten, das alte Princip als "dogmatisch" und "beengend" zu verdächtigen. Aber im ganzen betrachtet bleibt es doch dabei: Es ist nicht so, wie einige Verbindungen ihre draußen stehenden Philister glauben machen, daß die lieben jungen Brüder zwar den alten Wingolfsgeist noch geradeso haben u pflegen, und nur die äußere Formulierung des Princips zugunsten einzelner schwacher Brüder etwas weiter fassen möchten. Sondern es ist zwischen Halle und Marburg ein Gegensatz in der ganzen Verbindungsauffassung, sodaß sich ein Hallenser, und wenn er Chemiker wäre, in Marburg nicht wohlfühlt u umgekehrt: ganz abgesehen von theologischer Stellung, einfach wegen der Verschiedenheit des ganzen Verbindungslebens u des herrschenden Tones. Es könnte natürlich auch zwischen Verbindungen mit gleichem Princip eine Lebensverschiedenheit gemischter Art geben, wie denn in orthodoxen Verbb. hin und wieder gesoffen worden ist u wie dann die bundesbekannte Goppser Prolese wohl hin und wieder den Ton daselbst etwas hinabgestimmt hat. Aber dergleichen ist hier ja gleichgültig: Hier handelt es sich um einen Lebens- und Tonunterschied, der mit dem principiellen Unterschied Hand in Hand geht.

Bisher nun war die Sachlage die, daß von den beiden "Richtungen" nur die Hallenser im Bunde berechtigt war, weil sie ohne Frage der alte Wingolf ist, während die "neue Richtung" eben etwas neues wollte. | In den alten Bundessatzungen, vor dem Ch.-C.Chargierten-Convent in Halle, war dem genuin-wingolfitischen Teil, auch wenn er nur aus einer Verb. bestand, immer der Sieg gesichert, weil der Widerspruch auch nur einer Verb. gegen ein neues Princip dasselbe unmöglich machte. Nun entwickelte sich der Kampf um die "neue Richtung" zunächst so, daß die "liberalen Verbb." neue Principien vorlegten u Ha (u. Lc, Gd, bisweilen Erl.) dieselben ablehnten. [Daß die Ausführung im einzelnen abweichend war, indem Ma sich gegen ein "orthodoxes" Princip spreizte u nicht für sich sondern für Kö. ein "liberales" durchsetzen wollte, ist wieder gleichgültig] Der Kampf um die neue Richtung wurde ein Kampf um das Princip, und mußte es werden, weil hier allein, nämlich in dem oben genannten § der Bundessatzungen, einerHandhabe Gelegenheit war, den Änderungen entgegenzutreten.

Man ist nun in Ha. immer darauf aus gewesen die "neue Richtung" zu bekämpfen, den Wingolf als das zu erhalten, was er war u ist. Daß das immer nur möglich war dadurch, daß man in Principfragen seine Macht gebraucht, war peinlich genug, und ist ja auch als peinlich empfunden worden. Daß die einzelnen Streitfälle immer mit einer Beugung der "liberalsten" Leute unter ein "orthodoxes" Princip endeten anstatt den Austritt| der betr. Leute zu veranlassen oder den Austritt ganzer Verbb. aus dem Bunde herbeizuführen, hat man in Ha. immer bedauert. Ich entsinne mich noch deutlich, wie mir ein Berliner auf der Wartburg 03.1] als der Fall Vogt eben passiert war, als sicher u gewiß prophezeite, daß Vogt nach dieser Entscheidunge austreten werde, - und heute liest man Vogt unter der Erklärung von Kühn u Genossen!

So hat sich durch dauerndes Kneifen die "neue Richtung" im Bunde gehalten - u jetzt will man sie als gleichberechtigt anerkennen und ihr zuliebe die Corridore im Hause erweitern (um mit Ltgt zu reden), anstatt sie vor die Thüre zu setzen?

Als auf dem Ch.-C.Chargierten-Convent in Halle der Activitätszwang aufgehoben wurde, hatte damit die neue Richtung gesiegt. Weil die Verschiedenheit zu groß war, um eng zusammenhalten zu können, machte man den Zusammenhang loser. Vor dem Ch.-C.Chargierten-Convent war man sich in Ha. ganz klar darüber, daß man die Neuerer vor die Thür setzen wolle. Die Verhältnisse sind ja im Laufe des Streites sehr viel schwieriger geworden, weil einerseits durch das viele Reden von Liberalität viele unkundige Verbb. auf die "liberale" Seite gedrängt sind und andrerseits sich nicht leugnen läßt, daß das (nach Maer u urwingolfitischer Auffassung) unwingol| fitische Verbindungsleben mit seiner Renommiererei und seiner Betriebsmacherei weiter um sich gegriffen hat. Aber sollen wir darum den Wingolf aufgeben? Du weißt ja, daß ich an der damaligen Zurückbremsung nach dem Ch.-C.Chargierten-Convent der Hauptschuldige war. Ich stehe noch heute ganz hinter ihr. War das Nichtratificieren äußerlich ein nicht eben glänzender Weg, es war das einzige, was uns blieb, nachdem sich unsere Leute auf dem Ch.-C.Chargierten-Convent hatten überrumpeln lassen. Die Ereignisse der Tage damals sind ja in aller Gedächtnis. Nach meiner Ansicht hätte man auch jenen Principriegel, der in den alten Bundessatzungen enthalten war, nicht preisgeben sollen.

Wollen wir einen wirklichen Wingolf haben, so kann er nur aus Halle u Halles Anhängern bestehen. Es fragt sich nur, ob die Kräfte in der Philisterschaft, die zum größten Teil im Grunde auf unserer Seite steht, sich gewinnen u nutzbar machen lassen. Solange Winkler an der Spitze steht, braucht man die Hoffnung doch nicht ganz aufzugeben. Das Ziel für die Verhandlungen sollte jedenfalls dies sein: Ein echter Wingolf, auf dem alten Grunde. Gewiß werden viele, Verbb. u Philister, die eigentlich dazu gehörten, doch verloren gehen für d. gute Sache, weil ihnen von dem Lärm des "Principienstreites" die | Ohren sausen, aber mit dem Zögern wegen dieser Befürchtung haben wir schon viel zu viel Zeit verloren.

Was Du dagegen erreichst, wenn Du den Activitätszwang aufhebst u das Band löst, ist nicht etwa ein neutraler Zwischenzustand, wie man nach Deinen letzten Sätzen denken könnte, aus dem sich später derselbe Wingolf wieder entwickeln könnte, sondern eine Comission in die "neue Richtung", die sich nie wieder gut machen läßt. Es bedeutet für den Wingolf einen Schritt weiter auf dem "Weg alles akademischen Fleisches", wie der alte Herr diese Entwicklung treffend nennt, und diesen Schritt wird er nie wieder zurückthun. Bisher ist Streit: Es sind 2 Parteien da, u nur unsre hat Recht auf den Wingolf, weil sie allen das ist, was der Wingolf war. Nach Deiner Lösung aber würde eben einfach zugegeben: Es giebt sehr verschiedene Verbb. u sie sind alle Wingolfe, d. h. den Wingolf aufgeben, den man m. E., wenn auch nur mit wenigen, noch aufrecht erhalten u. durch diese schwere Krisis hindurch rettenwürd könnte.

Und das ist nicht gerade Theorie. Wird der Win| golf gelockert, so verliert er seinen Charakter und sein Erbe tritt unweigerlich die D. C. S. V. an. Sind uns nicht jetzt schon, gerade in Ha, viele brauchbare Füxe verloren gegangen, weil sie "Marburger Wingolfiten kannten u von ihnen gehört hatten, was der Wingolf sei"? ich habe während meiner Activität, diesen Fall nicht einmal sondern oftmals erlebt. Und wieviel brauchbare Leute werden der Wingolfssache gar in Ma., , Hg, verloren gehen, weil die Sache so jammervoll vertreten ist! -

Und nun stell Dir doch mal das neue Wingolfsbund vor, wie es nach Aufhebung des Activitätszwanges sein wird. Von einer Glaubensgemeinschaft kann dann natürlich nicht mehr die Rede sein, und die ideale tief innerliche Seite des alten Wingolf ist ganz weg. Die berühmten Kähler-Reden u all dergl. würden zu dieser neuen Gemeinschaft schlecht oder vielmehr garnicht passen. Und haben wir denn wirklich dann noch soviel gemeinsames gegenüber der andern Studentenschaft? Wer sagt mir denn, ob mir die Vicaren in Tüb. nicht näher stehen als unsere Sauschwaben, ob ich in Marburg nicht mehr Gemeinschaft habe mit der dortigen D. C. V. als mit der gaussi| renden Verbindung? Was nützt uns der Z/fg mit so anders gerichteten Verbb.? In den oben genannten Fällen war Marb. nicht eben ein Reklameschild für Ha. gewesen. –

Doch ich stecke in Examensarbeit u habe große Eile. Das wollte ich Dir nur gern in Kürze auf Deinen Artikel hin geschrieben haben. Wenn es an wenigen Stellen panto animosius geschrieben ist, so wirst Du Dich nicht daran stoßen, u ich darf wohl darauf rechnen, daß es in Zwar-Aber bleibt. - Mir wäre es das Liebste, wenn es endlich zur Gründung oder vielmehr Errettung eines echten Wingolf käme - mit oder ohne Namen u Horten-. Man sollte einfach mit den alten Bundessatzungen und den alten Principien geweilen, und wem's nicht paßt, der mag draußen bleiben.

Viel herzlichen Gruß
Dein Joh. Bertheau Wingolfszirkel (x)
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